Die Junge Akademie Schweiz vernetzt Nachwuchsforschende aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen und bildet ein inspirierendes Umfeld für inter- und transdisziplinäre Begegnungen und innovative Ideen. Die Mitglieder sind Ansprechpartner:innen für die Schweizer Wissenschaft und gelten als die junge Stimme der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Mehr

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«Ich mag keinen Höflichkeitsapplaus»

Sein Leben ist durch Abwechslung gekennzeichnet, sein akademischer Werdegang durch Neugierde und Interesse getrieben. Vielleicht könnte man Servan Grüninger, Gründungsmitglied der Jungen Akademie und Mitgründer der Ideenschmiede «Reatch» als intellektuellen Nomaden bezeichnen. Zurzeit arbeitet er in Wien an seiner Dissertation.

Interview: Astrid Tomczak-Plewka

Servan Grüninger, mit welchen drei Eigenschaften würden Sie sich selber charakterisieren?

Uh, schwierige Frage. Also sicher Neugier. Es interessieren mich immer ganz verschiedene Sachen, auch wenn sie nichts mit meinem Fach zu tun haben. Ich lerne sehr gerne neue Menschen kennen und frage sie aus. Und ich würde auch sagen, ich bin ein kritischer Mensch. Wenn mir jemand sagt: „Okay, das nehmen wir mal an“, dann fange ich an, rumzustochern.

Was ist Ihnen lieber, Kritik oder Applaus?

Lieber ist mir der Applaus für das, woran ich wirklich intensiv gearbeitet habe. Wenn ich mit etwas zufrieden bin und viel Zeit und Energie investiert habe, freue ich mich über Anerkennung. Kritik schätze ich vor allem im Entwicklungsprozess. Höflichkeitsapplaus hingegen mag ich nicht.

Und wenn Kritik für etwas kommt, das Sie als durchdacht empfinden?

Früher hat mich das mehr gestört. Heute frage ich nach, ob die Kritik fundiert ist. Wenn sie auf etwas basiert, das ich bereits bedacht habe, diskutiere ich nicht gross. Wenn sie mir hingegen neue Perspektiven eröffnet, kann das sehr hilfreich sein – gerade wenn ich einen Text schreibe.

Was fasziniert Sie an Statistik?

Die Vielfalt. Es gibt den Spruch von einem Statistiker, Stephen Senn. Er lautet: «Ein Statistiker ist ein zweitklassiger Mathematiker, ein drittklassiger Wissenschaftler und ein viertklassiger Denker.» Das ist überspitzt gesagt, aber ich finde es fasst sehr schön zusammen, wie breit und vielseitig das Feld ist und wie viele verschiedene Kenntnisse man braucht. Statistik ist nicht nur Zahlen und Formeln – es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen, Annahmen zu hinterfragen und zu verstehen, was eine Zahl wirklich aussagt. Viele sehen Statistik als reine Mathematik, aber sie ist viel mehr. Man muss sich überlegen: Welche Daten haben wir, welche fehlen uns? Welche Methoden können wir nutzen, um sinnvolle Aussagen zu treffen? Statistiken werden häufig einfach als gegeben hingenommen, als ob sie vom Himmel gefallen wären, ohne dass jemand hinterfragt, wie sie erhoben wurden. Die Leute nehmen das und bringen es mit ihren eigenen Projektionen und Vorstellungen in Übereinstimmung, seien es Kriminalitätsstatistiken, Statistiken über den Wirtschaftsverlauf oder auch Statistiken der Wissenschaft.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Vor einiger Zeit gab es Meldungen über einen Pilz, der sich in den USA in Spitälern verbreite. Der Blick wollte vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) wissen, wie die Situation denn in der Schweiz sei. Die Antwort: Das BAG habe keine Kenntnis von einer Zunahme der Fälle. Nur: Infektionen mit dem Pilz waren damals noch nicht meldepflichtig.  Das zeigt die typische Gefahr der „Datenlücke“: Es zählt nur, was gezählt wird – obwohl es real vielleicht ein großes Problem ist.

Ein anderes Beispiel ist die Reduktion von Individuen auf Durchschnittswerte. Gerade bei politisch hitzig diskutierten Themen beobachte ich das immer wieder. So geistert regelmässig das Gespenst eines politischen «Geschlechtergrabens» durch den Blätterwald. In der Tat sind Frauen im Durchschnitt linker eingestellt als Männer. Aber eben nur im Durchschnitt. Schaut man sich die gesamte Verteilung an, sieht man, dass die politischen Einstellungen von Männern und Frauen stark überlappen – nicht nur in der Mitte, sondern auch an den politischen Rändern.

Haben Sie ein Vorbild in der Wissenschaft?

Ich finde William Gosset inspirierend. Er entwickelte den Student’s t-Test, einen wichtigen Test in der Statistik, durfte ihn aber nicht unter seinem eigenen Namen veröffentlichen, weil er für Guinness arbeitete, wo er die Qualität von Hopfen und Malz untersucht hat. Also nutzte er das Pseudonym „Student“. Es gab damals wie heute viele grosse Egos in der Wissenschaft. Mich beeindruckt, dass Gosset trotz der Konkurrenz kollegial blieb und sich selbst zurückgenommen hat. Der andere ist Stefano Franscini, Mitglied des ersten Bundesrats der Schweiz und ein Pionier der Statistik in der Schweiz. Er erstellte in mühsamer Kleinarbeit die erste umfassende Statistik der Schweiz und hat später als Bundesrat die erste Volkszählung 1850 fast im Alleingang organisiert. Er hat viel für das Gemeinwesen geleistet, ohne selbst davon zu profitieren – das beeindruckt mich sehr. Er ist dann im Amt als Bundesrat gestorben, weil er es sich nicht leisten konnte, nicht mehr Bundesrat zu sein – damals gab es für ehemalige Bundesräte noch keine Pension.

Wer hat Sie am meisten geprägt?

Ich bin in meinem Leben oft umgezogen, das hat meine Entdeckungsfreude geprägt. Ich habe überall Leute getroffen, von denen ich etwas lernen konnte. Auch die Freiheit, die mir einige Mentoren gegeben haben, hat mich geprägt.

Sie waren Gründungsmitglied der Jungen Akademie. Was war Ihre Motivation, sich zu bewerben?

Ich wusste schon, dass die Junge Akademie kommt, bevor es sie gab. Ich fand es toll, dass die Akademien das ermöglichen, denn es gab damals wenige Organisationen für junge Forschende, die interdisziplinären Austausch und die Verbindung zur Gesellschaft förderten. Ich habe gehofft, dort Menschen mit ähnlichen Interessen kennenzulernen und Projekte zu starten.

Haben sich diese Erwartungen erfüllt?

Ja, besonders in den ersten Jahren war ich sehr aktiv. Ich habe bekannte und neue Leute kennengelernt, mit denen ich intensiv zusammengearbeitet habe. Die Vielfalt der Profile in der Jungen Akademie ist spannend.

Wenn Sie zurückschauen, was ist das grösste Learning aus dieser aktiven Zeit?

Gerade im Projekt «Who gets heard» habe ich viel über Wissenschaftspolitik und die unterschiedlichen Vorstellungen gelernt, was Wissenschaft in der Politik bedeutet. Es war spannend zu sehen, dass für viele Politikerinnen und Politiker nicht nur Universitäten oder Forschungseinrichtungen wissenschaftliche Expertise bieten, sondern auch Thinktanks oder Verbände. Wissenschaft wird oft aus einer breiteren Perspektive wahrgenommen, als wir es innerhalb der Akademie tun.

Und was hat Ihnen die Zeit in der Jungen Akademie für Ihre persönliche Entwicklung gebracht?

Ich habe gelernt, dass es völlig in Ordnung ist, sich manchmal zurückzunehmen und anderen Verantwortung zu überlassen. Ich war und bin froh, dass wir ein starkes Präsidium haben, dem ich vertrauen konnte. Für mich war das ein Lernprozess, weil ich sonst oft in Positionen war, in denen ich schnell Verantwortung übernommen habe.

Welche Botschaft haben Sie für junge Leute, die vor der Studienwahl stehen?

Dass ich vermutlich die schlechteste Person bin, um Ratschläge zu geben (lacht). Mein Weg war eine Aneinanderreihung von interessengeleiteten Entscheidungen mit viel Glück und harter Arbeit. Ich habe mit Politikwissenschaft und Recht begonnen, dann Biologie und Neuroinformatik studiert, anschließend Statistik und Computational Science – und jetzt schliesse ich ein Doktorat ab in Biostatistik und Epidemiologie. Es gab keinen Masterplan. Ich würde raten: Haltet die Augen offen, probiert Dinge aus und lasst euch von euren Interessen leiten. Wer hingegen sicher wissen möchte, wo er oder sie in zehn Jahren steht, sollte wohl einen anderen Weg einschlagen.

Servan Grüninger ist in Schaffhausen geboren, im Graubünden aufgewachsen, hat während des Studiums in den USA, Deutschland und Tansania gelebt, war dann ein paar Jahre in Biel und ist zurzeit in Wien, wo er an seiner Dissertation arbeitet. «Ich habe immer eine Aufgabe gebraucht», sagt er. «Ich bin nicht so ein Typ, der lange ziellos rumreist. Das hatte auch pragmatische Gründe: Ich brauchte Geld. Das heisst, dass ich meine Reisen immer mit Arbeit verbunden habe.» Der Sohn einer Schaffhauserin und eines Kurden hat sein Studium in Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biologie, Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Der Mitbegründer der wissenschaftlichen Ideenschmiede «Reatch» schreibt gerne - journalistisch aber auch belletristisch. Er hält sich auch körperlich fit, unter anderem mit Yoga und (Standard) Tanzen, früher auch mit Parkour «heute komme ich leider nicht mehr dazu». Ausserdem spielt er Ukulele, liest viel und besucht gerne Konzerte. «Das kommt sehr darauf an, mit wem ich gerade unterwegs bin», sagt Grüninger. «Ich schätze einfach die Abwechslung und das breite Spektrum der Leute in meinem Umfeld. Mit manchen gehe ich lieber tanzen, mit anderen mache ich einen Spielabend oder unterhalte mich über Literatur.»

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