Wissenschaft vernetzen.

Die Junge Akademie Schweiz vernetzt Nachwuchsforschende aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen und bildet ein inspirierendes Umfeld für inter- und transdisziplinäre Begegnungen und innovative Ideen. Die Mitglieder sind Ansprechpartner:innen für die Schweizer Wissenschaft und gelten als die junge Stimme der Akademien der Wissenschaften Schweiz.

«Mir ist es wichtig, positive Räume zu schaffen, wo Solidarität gelebt wird»

Sie ist preisgekrönte feministische Forscherin, passionierte Snowboarderin und Hundefreundin: Stefanie Boulila. Mit der Jungen Akademie setzt sie sich dafür ein, die prekären Arbeitsbedingungen von Frauen und anderen Minderheiten in der Wissenschaft zu verbessern und Missstände auf den Tisch zu bringen. «Es gibt sehr viel zu tun», sagt sie im Interview. «Und junge Forschende wollen was verändern.»
 
Interview | Astrid Tomczak
© Bildquelle: Samuel Devantéry

Stefanie Boulila, Sie waren von Anfang an im Präsidium der Jungen Akademie Schweiz. Was waren die Herausforderungen in den letzten anderthalb Jahren?

Eine Community mitten in einer Pandemie zu bilden, ist kein einfaches Unterfangen. Ich habe viele Mitglieder noch nie persönlich getroffen. Aber es ist uns trotz der physischen Distanz gelungen, eine Debatte über gemeinsame Werte und eine gemeinsame Vision zu führen sowie darüber, wie wir wirken wollen.

 

Die Junge Akademie ist ja in das Netzwerk der Akademien eingebunden. Welche Vorteile hat das gebracht, wo und wie konnten Sie dieses Netzwerk besonders gut nutzen?

Diese Einbindung ist sehr wichtig, damit wir gehört werden. Sie zeigt auch, dass die Akademien ein Interesse daran haben, jüngeren Mitgliedern eine Stimme zu geben und transformationsoffen zu sein. Die Wissenschaft muss sich verändern, um für Jüngere auch als Arbeitgeberin attraktiv zu sein.

 

Sie sind Mitglied einer Projektgruppe, die sich mit Ungleichheiten und prekären Arbeitsbedingungen beim akademischen Nachwuchs beschäftigt. Was ist Ihr bisheriges Fazit?

Unser Projekt Challenging Inequalities zeigt deutlich, dass die prekären Arbeitsbedingungen mit der Situation von Frauen und anderen unterrepräsentierten Minderheiten verschränkt sind. An den Hochschulen sind Opfer von Ausbeutung und Diskriminierung zu wenig geschützt, es gibt kaum opferzentrierte Beschwerdeprozesse – beispielsweise bei sexueller Belästigung. Postdocs sind in Abhängigkeitsverhältnissen und müssen eine zusätzliche Benachteiligung fürchten, wenn sie Missstände zur Sprache bringen. Wir hören auch immer wieder von Rassismus und Klassismus – und dass dabei Betroffenen einfach kein Glauben geschenkt wird. Da gibt es also sehr viel zu tun, und junge Forschende wollen was verändern.

 

«Unser Projekt Challenging Inequalities zeigt deutlich, dass die prekären Arbeitsbedingungen mit der Situation von Frauen und anderen unterrepräsentierten Minderheiten verschränkt sind.»

 

Und welchen Beitrag leistet Ihr Projekt?

In einer ersten Runde ging es darum, eine Auslegeordnung zu schaffen und erste Problemfelder zu diskutieren – beispielsweise mit öffentlichen Veranstaltungen. In einem Anschlussprojekt wollen wir die Probleme konkret angehen, beispielsweise indem wir ein Netzwerk für Rassismus und Klassismus Betroffene schaffen werden. Der peer support ist sehr wichtig, in der Schweiz sind die Betroffenen bis jetzt nicht organisiert, aber in anderen Ländern hat sich gezeigt, dass solche Netzwerke auf individueller und institutioneller Ebene hilfreich sind. Ein weiterer nächster Schritt ist zudem die Schaffung einer Arbeitsgruppe Prekarität und Ungleichheit im Rahmen des Projektes. Dann wird es darum gehen, zentrale Akteurinnen und Akteure des Hochschulbereichs in einen transformativen Dialog einzubinden.

 

Wie haben Sie selbst die genannten Herausforderungen gemeistert?

Ich hatte das grosse Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Das Zentrum für interdisziplinäre Genderstudien an der Universität Leeds (UK), wo ich meinen Masterabschluss und meine Dissertation gemacht habe, hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum für angehende feministische Forschende zu schaffen. Das war ein sehr ermutigendes Umfeld – insbesondere in der schwierigen Phase der Promotion, die für alle eine Herausforderung ist. Uns wurde das Handwerkszeug mitgegeben, in dieser neoliberalen Landschaft zu bestehen und das hat mir meine Karriere ermöglicht. In England wurde ich auch darin ausgebildet, unabhängige Forschung zu betreiben, was auch damit zu tun hat, dass im angelsächsischen Raum Departementsstrukturen vorherrschen. Diese zeichnen sich durch eine vielfältige Professor:innen- und Dozierendenschaft aus mit etablierten sowie jüngeren Wissenschaftler:innen, zudem flacheren Hierarchien sowie Mentoring- statt Abhängigkeitsverhältnissen. Ich habe immer wieder gesehen, wie prägend positive – aber eben auch negative – Erfahrungen für Promovierende und Postdocs sind. Deshalb ist es mir auch so wichtig, positive Räume zu schaffen, wo Solidarität gelebt wird.

 

Wie sind Sie auf die feministische Forschung gekommen?

Ich habe mich schon immer sehr stark für Fragen von Ungleichheit und Solidarität interessiert. Das hat wohl mit meiner Sozialisation zu tun: Ich bin in Bern bei meiner Grossmutter, einer protestantischen Arbeiterin, aufgewachsen. Sie hat 14 Pflegekinder aufgenommen, die sonst verdingt worden wären. Ihr Credo war, dass alle Kinder das Recht auf ein würdevolles Aufwachsen haben. Das hat mich sehr geprägt. In der feministischen Theorie habe ich dann den Korb gefunden, wo ich meine Interessen für soziale Ungleichheiten sammeln konnte.

 

«In der feministischen Theorie habe ich dann den Korb gefunden, wo ich meine Interessen für soziale Ungleichheiten sammeln konnte.»

 

Sie haben in diesem Jahr den renommierten Emma Goldman Award der FLAX Foundation erhalten, der «exzellente Forschende in ihrer Arbeit über Ungleichheit und Ungerechtigkeit fördert». Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Das Schöne an dem Preis ist, dass man sich nicht darum bewirbt. Die Idee dahinter: Gute Forschende machen gute Forschung in einem Gebiet, das sie interessiert – unabhängig von irgendeinem Antragssystem. Forscherinnen bekommen dadurch also die Freiheit, das zu tun, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Dadurch werden Projekte verwirklicht, die sonst nicht möglich wären, weil sie den Förderkriterien nicht entsprechen. Es entsteht ein experimenteller Raum, in dem der Prozess das Ziel ist.

 

Was werden Sie mit dem Preisgeld machen?

Ich schreibe ein Buch darüber, wie Demokratie in zeitgenössischen feministischen Theorien verhandelt wird. Ich interessiere mich für die Spannung zwischen Demokratie als Katalysator für soziale Gerechtigkeit und als Mittel, um Machtverhältnisse zu erhalten. Wo ich am Schluss rauskomme, weiss ich noch nicht (lacht).

 

Und welches Ziel möchten Sie mit der Jungen Akademie im Jahr 2022 erreichen? Welche Rolle spielen dabei die Akademien der Wissenschaften Schweiz?

Wir wollen neue Mitglieder gewinnen. Wir haben schon jetzt eine unheimlich tolle Gruppe und möchten noch mehr jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen, von diesem grossartigen Netzwerk zu profitieren. Inhaltlich ist es mein Ziel, die Junge Akademie als Raum zu nutzen, um Dinge zu testen, die für den Rest des Hochschulsektors interessant sein könnten. Konkret möchte ich mit anderen die Thematik der sexuellen Belästigung angehen und überlegen, wie opferzentrierte Prozesse aussehen könnten. Die Akademien Schweiz spielen eine sehr zentrale Rolle, alleine schaffen wir es nicht, unsere Anliegen in die relevanten Netzwerke zu tragen. Ich hoffe, dass die Akademien uns als Partnerin sehen, die einen Beitrag zur Innovation und Inspiration leistet, dass wir gerade bei der Debatte um Ungleichheiten und Arbeitsbedingungen helfen können, die Situation zu verbessern.


Biografie

Stefanie Boulila (Jg. 1986) ist Präsidiumsmitglied der Jungen Akademie Schweiz. Nach einem BA Kommunikationswissenschaft an der Universität Fribourg und einem MA in Global Genders an der Universität Leeds (UK), promovierte sie in Leeds in der Soziologie und den Gender Studies. Während ihrem Postdoc an der Georg-August Universität Göttingen verfasste sie eine Monographie mit dem Titel «Race in Post-racial Europe: An Intersectional Analysis» (Rowman & Littlefield). Seit 2019 arbeitet Stefanie Boulila am Institut für soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern, wo sie derzeit als Forschungsverantwortliche tätig ist und unter anderem ein SNF Spark Projekt zur Lebenssituation von Regenbogenfamilien im Kanton Wallis durchgeführt hat. 2021 gewann sie einen mit 50'000 Euro dotierten Emma Goldman Award. Sie ist Beiratsmitglied des Think Tank Gender and Diversity, einem Kooperationsprojekt, das Gleichstellungsstrategien auf Hochschulebene unterstützt. Stefanie Boulila ist in Bern geboren. Heute lebt sie in Crans-Montana. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten auf dem Snowboard oder mit ihrem Chihuahua Kensie aus dem Tierheim Berlin.