Porträt I Astrid Tomczak
Oft sind es (vermeintliche) Zufälle, die unser Leben in eine Richtung lenken, die wir sonst vielleicht nie eingeschlagen hätten. Wenn Sandra Bärnreuther von ihrem Werdegang erzählt, fällt der Begriff öfter. Als die junge Frau vor der Studienwahl stand, wusste sie vor allem, was sie nicht wollte: «Studiengänge wie Medizin oder Wirtschaft kamen für mich nicht in Frage», sagt sie. «An einem Infotag hat mir dann jemand von Ethnologie erzählt. Ich habe mir das Informationsblatt durchgelesen und gedacht: Ja, das ist es.» Sandra Bärnreuther ist in einem Vorort von München aufgewachsen, wollte aber zum Studium von zuhause weg, also entschied sie sich für Münster. Auch hier hat ihr der Zufall wieder in die Hände gespielt: In Münster mussten Studierende der Ethnologie – wie das Fach dort hiess – eine aussereuropäische Sprache lernen. «Ich habe Hindi gelernt, weil es in meinen Studienplan passte.»
Sie beschloss dann ein Auslandsjahr an der Universität Delhi zu absolvieren und nach ihrer Rückkehr in Heidelberg weiter zu studieren, weil es dort ein interdisziplinäres Institut mit Schwerpunkt Südasien gab und auch ihr thematisches Interesse, Medizinanthropologie, vertreten war. «Mich interessiert die Medizin nicht nur als klinische Praxis, sondern auch wie sie sozial, politisch und ökonomisch geprägt ist», erklärt sie. Als Beispiel nennt sie ihr Promotionsprojekt über In Vitro Fertilisation (IVF). «Ich erforschte einerseits wie IVF in Indien praktiziert und genutzt wird und andererseits unter welchen historischen Bedingungen der IVF Sektor entstanden ist. Ich untersuche dabei auch immer globale Verflechtungen», betont die Wissenschaftlerin, die an der Universität Luzern als Assistenzprofessorin arbeitet. So hat sie sich etwa damit beschäftigt, welche Rolle Indien in der Entstehung der globalen Reproduktionsmedizin spielte.
Seit ihrem ersten Aufenthalt vor 20 Jahren war Sandra Bärnreuther immer wieder in unterschiedlichen Regionen Indiens; für ihre Masterarbeit in Ladakh, in Nordindien, für ihre Dissertation in Neu Delhi. Mittlerweile forscht sie in Westbengalen, bei Kalkutta. «Ich habe dafür Bengalisch gelernt», sagt sie. Das ist für ihre Arbeit auch wichtig: In ihrem aktuellen Forschungsprojekt geht es um digitale Technologien im Gesundheitssektor in Indien, vor allem in ländlichen Gebieten. «Da sprechen viele Leute kein Englisch, das Bengalisch ist wirklich notwendig», betont sie. Sie untersucht wie die Einführung von digitalen Plattformen, die online Konsultationen ermöglichen aber auch Gesundheitsdaten speichern, die Primärversorgung in Indien verändern. Was macht der digitale Wandel mit sozialen Beziehungen, beispielsweise zwischen Patient:innen und Ärzt:innen? Welche neue Rolle spielen lokale Gesundheitsarbeiter:innen, die diese Technologien bedienen? Inwiefern werden bestehende Hierarchien aufgebrochen oder verstärkt?
«Ich habe als Wissenschaftlerin die Möglichkeit, in Ländern des globalen Südens zu forschen. Umgekehrt passiert das seltener.»
Soziale Ungleichheit ist ein wichtiges Thema in ihrer Arbeit, auch in der wissenschaftlichen Praxis. «Ich habe als Wissenschaftlerin die Möglichkeit, in Ländern des globalen Südens zu forschen. Umgekehrt passiert das seltener.» Tatsächlich: Die Vorstellung, dass eine indische Forscherin in der Schweiz beispielsweise über IVF oder Alpenbräuche forscht, dürfte den meisten eher fremd sein. «Ich war Teil eines Projekts an der Uni Zürich, wo es genau darum ging, nämlich Wissenschaftler:innen aus dem globalen Süden Forschung in der Schweiz zu ermöglichen.» Es gibt jedoch leider immer noch zu wenig Finanzierungsmöglichkeiten und regelmässig erschweren auch Einreisebestimmungen die Aufenthalte von Wissenschaftler:innen aus dem globalen Süden in der Schweiz.
Eine internationale Öffnung wünscht sie sich auch für die Junge Akademie. «Interdisziplinarität war für mich schon immer sehr wichtig. Und als Mitglied der Jungen Akademie gibt es viele Möglichkeiten, mit vielen Leuten aus verschiedenen Disziplinen ins Gespräch zu kommen», sagt sie. «Aber ich finde es etwas schade, dass wir sehr europäisch ausgerichtet sind. Es wäre schön, wenn wir noch mehr Mitglieder von ausserhalb Europas oder aus dem globalen Süden hätten.»
In der Jungen Akademie engagiert sich Sandra Bärnreuther derzeit in einem Projekt über innovative Lehrformate. «Vorlesungen und Seminare haben natürlich ihre Berechtigung», sagt sie. «Aber wir wollen darüber hinausgehen und etwas Neues ausprobieren – gerade auch an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die Sozialanthropologie bietet wichtige wissenschaftliche Perspektiven, die selten an eine breitere Öffentlichkeit gelangen.» Die Projektgruppe will einerseits eine Bestandsaufnahme von innovativen Lehrformen an Schweizer Hochschulen erstellen sowie die Vernetzung von Lehrenden ermöglichen, andererseits aber auch Studierende ermutigen, ihre Arbeiten weiterzuentwickeln. Studierende, die solche Seminare bereits belegt haben, können sich mit ihren Ergebnissen, wie Blogs, Videos oder Podcasts, für einen Workshop bewerben, wo sie von Fachleuten lernen, wie sie ihre Arbeiten professionalisieren und veröffentlichen können.
«In meiner wissenschaftlichen Arbeit lebe ich davon, dass ich mit anderen Leuten kommuniziere und kooperiere.»
Im Gespräch mit Sandra Bärnreuther wird klar: Langweilig wird ihr bestimmt nicht. Was sie immer wieder an ihrer Arbeit fasziniert, ist die Begegnung mit Menschen. «In meiner wissenschaftlichen Arbeit lebe ich davon, dass ich mit anderen Leuten kommuniziere und kooperiere.» Sie sagt von sich: «Ich habe meinen Traumberuf gefunden, kann das aber nicht jeder Person empfehlen.» Was sie damit meint? Sie schätzt unter anderem die Flexibilität, die für andere vielleicht eine Belastung sein kann. «Ich war lange Zeit sehr mobil. Das ist nicht für alle möglich. Und ich hatte auch einfach viel Glück. Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sind prekär und viele arbeiten auf befristeten Stellen. Wenn es mit meinem jetzigen Job nicht geklappt hätte, wäre ich vielleicht nicht mehr akademisch tätig.» Doch natürlich gehört mehr als Zufall und Glück dazu, um dort zu sein, wo sie heute ist. Ausdauer – und eine gewisse Hartnäckigkeit? Bärnreuther zögert, sagt dann aber: «Hartnäckigkeit? Ja.» Gleichzeitig sei aber vor allem der Austausch und die Zusammenarbeit mit Kolleg:innen für ihren Werdegang von zentraler Bedeutung gewesen. Und sie möchte anderen Mut machen, ihren Weg auch gegen Widerstände zu verfolgen. «Ich sehe manchmal Leute, die sich von Absagen entmutigen lassen. Das ist schade.»
Eine bayerische Globetrotterin
Sandra Bärnreuther ist in einem Vorort von München mit zwei jüngeren Geschwistern aufgewachsen. Sie hat zunächst zwei Jahre in Münster studiert und nach einem Auslandsjahr an der University of Delhi ihr Masterstudium in Heidelberg abgeschlossen. Danach war sie als «Fulbright Fellow» an der New York University und anschliessend wiederum für ein Jahr in Indien, an der Jawaharlal Nehru University New Delhi. Im Jahr 2015 hat sie in Heidelberg doktoriert. Anschliessend war sie als Oberassistentin an der Universität Zürich, seit Februar 2020 ist sie an der Universität Luzern, wo sie heute als Assistenzprofessorin am Ethnologischen Seminar mit Schwerpunkt Medizinethnologie lehrt und forscht. Ihr derzeitiges Forschungsprojekt beschäftigt sich mit daten-gesteuerten Entwicklungsansätzen in Indien und Kenia. Ein bisschen New York hat sich die Globetrotterin auch in der Schweiz erhalten: In ihrer Freizeit tanzt Sandra Bärnreuther gerne Lindy Hop.