Wissenschaft vernetzen.

Die Junge Akademie Schweiz vernetzt Nachwuchsforschende aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen und bildet ein inspirierendes Umfeld für inter- und transdisziplinäre Begegnungen und innovative Ideen. Die Mitglieder sind Ansprechpartner:innen für die Schweizer Wissenschaft und gelten als die junge Stimme der Akademien der Wissenschaften Schweiz.

Er gräbt die Geheimnisse der Menschheit aus

Auf Instagram nimmt er seine Follower mit in längst vergangene Zeiten: Gino Caspari, Archäologe und Mitglied der Jungen Akademie. Sein Leben wirkt wie ein einziges grosses Abenteuer. Der Preis dafür: Finanzielle Unsicherheit.

 

Porträt I Astrid Tomczak

Es gibt da diesen Moment im Gespräch, in dem Gino Caspari fast beiläufig einen Satz sagt. «Ich habe mich mehrfach gefesselt auf einem Stuhl wiedergefunden.» Er sagt ihn so, wie andere über Wetterphänomene sprechen, und die Journalistin denkt: Ok, das könnte ja auch – irgendwie – im übertragenen Sinn gemeint sein. Vorsichtiges Nachfragen. «Nein, ich war wirklich gefesselt. Aber ich wusste ja, ich bin im grünen Bereich. Ich hatte alle Papiere.» Das ist vielleicht eine typisch schweizerische Antwort eines Mannes, der in Steffisburg aufgewachsen und in der Berner Länggasse «zuhause» ist. Sofern es überhaupt sowas wie ein Zuhause geben kann für jemanden, der monatelang irgendwo auf der Welt unterwegs ist – und eben auch mal gefesselt auf einem Stuhl in China sitzt, weil er Gegenden kartografiert hat, die in militärischen Sperrzonen liegen. Thor Heyerdahl nennt er als ein Vorbild, diesen norwegischen Forschungsreisenden, der 1947 auf einem einfachen Floss den Pazifik überquerte. Im kollektiven Gedächtnis ist Heyerdahl Synonym für den Abenteurer schlechthin, ein Typ zwischen Genie und Wahnsinn. Auch Caspari hat was von einem Abenteurer, mit seinen langen Haaren und seinem Hang zum lakonischen Erzählen, wie in der Episode mit dem Stuhl.

 

Frühe Rätselsuche

 

Auf die Frage, wie er in der Archäologie gelandet sei, geht er in seine Kindheit zurück. «Ich habe mich schon von klein auf für Rätsel interessiert», sagt er. «Und in der Archäologie gibt es ganz viele offene Fragen.» Die Natur spielte eine grosse Rolle im Leben des jungen Gino: Der Vater ging auf die Jagd, die Mutter war sehr interessiert an Pflanzen, seine Grossmutter bezeichnet er als «Kräuterhexe». Von seinem Naturell her sei er eher ein «Allrounder», sagt er denn auch. «Wahrscheinlich wäre ich auch als Meeresbiologe glücklich geworden.»

Im Gymnasium wählte er als Schwerpunktfach Biologie/Chemie, studierte dann Archäologie und Kunstgeschichte und hängte einen Master in Betriebswirtschaft an. Danach lernte er Mandarin in China und Taiwan, machte in den USA einen Masterabschluss in Ostasiatischen Studien und doktorierte in Hamburg in Archäologie.

 

«Die Archäologie kann fundiert die Frage beantworten, woher wir kommen.»

 

Seit rund 15 Jahren ist der 37-Jährige an Ausgrabungen auf der ganzen Welt beteiligt von China bis nach Alaska. 2017 brach er seine Forschung in China ab. «Die Überwachung, die Umerziehungsmassnahmen, der kulturelle Genozid – es wurde schwer in diesem Kontext Feldforschung mitzuverantworten», sagt er. Er verlagerte seine Forschung nach Russland, wo er seine bisher vielleicht grösste Entdeckung machte: Tief in einem Sumpf in der Republik Tuwa nahe der Mongolei fand er mit seinem schweizerisch-russischen Grabungsteam nicht nur das grösste, sondern wohl auch das früheste skythische Fürstengrab Südsibiriens. Seit 2017 ist das Forschungsteam hier den Geheimnissen des sagenumwobenen Reitervolks auf der Spur. Der Archäologe mit der wilden Mähne, der 18 Jahre lang intensiv auf höchstem Level Kampfsport («Tricking») betrieben hat, passt gut zu dieser Grabung: Tatsächlich gleicht auch Casparis Leben einem schwindelerregenden Ritt durch Länder, Disziplinen und Sprachen. Und er lässt andere teilhaben an seinen Abenteuern: 128'000 Follower auf Instagram können quasi live mitverfolgen, wenn Caspari Tausende Jahre alte Objekte frisch aus der Grabung präsentiert und einordnet. Für den Forscher ist die Plattform ein zeitgemässer Kanal für die Wissenschaftskommunikation – seine Erkenntnisse dazu hat er sogar in einem Fachjournal publiziert. Die Archäologie taugt also zur Unterhaltung, was aber macht sie zu einer relevanten Wissenschaft? «Die Archäologie kann fundiert die Frage beantworten, woher wir kommen», sagt Caspari. Er verweist auf das Alter des modernen Menschen – rund 300'000 Jahre. «Seit 5000 Jahren schreiben Menschen, alles, was davor war, können wir nur durch Archäologie ergründen.»

 

Prekäres Privileg

 

Wer sich durch Casparis Bildergalerie und Videos klickt, könnte leicht auf die Idee kommen, dass hier ein moderner Indiana Jones sein Leben als ein einziges grosses Abenteuer inszeniert. Das ist aber zu kurz gegriffen. Die Kehrseite der faszinierenden Welt auf Instagram ist ein Leben von der Hand in den Mund. «Ich lebe auf dem Niveau eines Studenten», sagt der Mann, der auf seinen Ausgrabungen schon bis zu 200-köpfige Teams geleitet hat. «Ich finde zwar immer wieder Mittel, meine Forschungsprojekte zu finanzieren, aber das Problem ist, mich selber zu finanzieren.» Damit teilt er das Schicksal vieler Nachwuchsforschender – auch in der Jungen Akademie, dessen Mitglied er seit deren Gründung ist.

 

«Ich lebe auf dem Niveau eines Studenten.»

 

«Ich fand es gut, dass die Akademien der Wissenschaften die Bereitschaft gezeigt haben, jüngere Stimmen zuzulassen», sagt er. «Die akademische Welt ist ja sonst ziemlich hierarchisch top down organisiert.» Zudem sei die Junge Akademie ein Ort des Austauschs für Menschen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Wobei Caspari letztere gleich wieder relativiert. Natürlich sei seine finanzielle Situation unsicher – Kinder beispielsweise könnte er sich zurzeit nicht leisten. Andererseits sei er sehr privilegiert. «Wenn ich Bock habe, irgendwo hin zu gehen, suche ich mir einen Grant und verfolge ein Projekt.» So war er letzten Sommer in Alaska unterwegs, taucht jetzt gerade nach einem Schiffswrack bei Menorca und hat ein Projekt für eine Forschung bei den Osterinseln eingereicht. «Ein Kollege arbeitet bei einer Organisation, die ein Schiff für Forschungsreisen im Pazifik bereitstellen würde. Das gibt mir Gelegenheit, auch mal in ganz abgelegene Gegenden abzudriften.»

 

Gelebte Träume

 

Da spricht er wieder, der Bub aus Steffisburg, der immer wieder Ausschau hält nach neuen Rätseln. «Ich stolpere über ungelöste Fragen. Und mein Hirn ist so gepolt, dass ich mir sofort überlege, welche Ressourcen und Leute ich brauche, um ein Problem zu lösen – je schwieriger, desto besser.» Auf diesem Weg kann Gino Caspari sehr stur sein. Manchmal bis zur Erschöpfung. «Ich habe früher oft meine eigenen Grenzen überschätzt, ich dachte am Anfang immer, ich muss nur hart und lange genug arbeiten, um zum Ziel zu kommen.» Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass es Grenzen gibt – seien es politische, wie in China, oder strukturelle, wie in der akademischen Landschaft. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das Interesse an Zentralasien gesunken – und damit auch das Interesse an Experten wie ihm, obwohl er auch in der digitalen Archäologie die Nase vorn hat.

 

«Mein Hirn ist so gepolt, dass ich mir sofort überlege, welche Ressourcen und Leute ich brauche, um ein Problem zu lösen – je schwieriger, desto besser.»

 

Trotzdem: Zum Schwarzseher taugt Gino Caspari nicht. Vielleicht öffnet sich bei der Unesco eine Tür, für die er schon viel im Bereich internationales Kulturerbe gearbeitet hat, vielleicht wird ihm dereinst auch das Startup GeoInsight, das er 2022 mitbegründet hat, finanzielle Unabhängigkeit bescheren. «Wir bauen einen digitalen Zwilling unserer Erde.» Mit diesen Worten hat Caspari die Mission des Startups mal umschrieben. Damit könnte GeoInsight bei der Risiko­abschätzung von Naturkatastrophen oder den Folgen des Klimawandels ein sehr wichtiger Player werden. So oder so: Es gibt auf jeden Fall noch genug Rätsel, die auf einen Forscher wie Caspari warten. Ob er noch Träume hat? «Ich träume die ganze Zeit. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.»


Globetrotter mit Berner Verwurzelung

 

Gino Caspari (Jg. 1987) ist in Steffisburg bei Thun geboren und hat in Bern Archäologie, Kunstgeschichte und Betriebswirtschaft studiert, an der Columbia University (USA) einen Master-Abschluss in Ostasienstudien gemacht und an der Universität Hamburg in Archäologie doktoriert. Geographisch ist er auf Zentralasien spezialisiert, methodisch auf digitale Archäologie. Den Ausgleich zur Forschung findet er im Sport: So betreibt er Kampfsport-Akrobatik, das so genannte «Tricking», Klettern und Tauchen. Wenn er nicht gerade irgendwo auf der Welt mit einer Grabung beschäftigt ist, lebt er in der Berner Länggasse und geniesst den Komfort, den das Leben in der Schweiz mit sich bringt – etwa Trinkwasser aus der Leitung.