Plötzlich ist da dieser Punkt im Gespräch, in dem BinBin Pearce nicht mehr so sorgfältig abwägend wirkt, wie in den Minuten davor. Ihre Stimme wird eine Spur eindringlicher, ihre Hände gestikulieren etwas mehr: Sie spricht darüber, wie die Wissenschaft mit der Gesellschaft kommuniziert. «Da kommt eine Gruppe Menschen und sagt anderen, was sie tun, wie sie ihr Verhalten ändern sollen», sagt sie. «Dazu hat doch niemand Lust. Viele Wissenschaftlerinnen und Forscher unterschätzen das.» Und dann stellt die junge Frau eine Frage: "Wie sensibel sind wir Leuten gegenüber, die unterprivilegiert sind?"
«Wie sensibel sind wir Leuten gegenüber, die unterprivilegiert sind?»
Letztlich stand diese Frage auch am Anfang von BinBin Pearces akademischer Laufbahn. Eigentlich wollte sie Ärztin werden wie ihre Mutter, war in einem Vorbereitungskurs in Stanford und machte ein Praktikum in einem Kinderspital in Nepal. Dort verteilte sie vor allem Rehydrationstabletten gegen Durchfallerkrankungen – «medizinisch keine besonders anspruchsvolle Tätigkeit», wie die Forscherin mit einem Anflug von Ironie sagt. «Ich begriff: Ich kann weiterhin diese Tabletten verteilen, aber das wird das Problem nicht lösen. Eigentlich geht es nämlich um die Infrastruktur.» Weil die Studentin das Übel bei der Wurzel packen wollte, entschied sie sich für Umweltingenieurswesen. Nach ihrem Studienabschluss in Stanford doktorierte sie in Yale mit einer interdisziplinären Arbeit über die Gestaltung eines nachhaltigen organischen Abfallmanagementsystems in Singapur. Seit 7 Jahren ist sie an der ETHZ, wo sie heute als Senior Scientist im Transdisziplinaritätslabor des Departements Umweltnaturwissenschaften arbeitet.
«Ich wäre nicht von selbst darauf gekommen, mich für die Junge Akademie zu bewerben», Aber meine Mentorin hat mich ermutigt. Sie meinte, dass die Ausrichtung der Jungen Akademie gut zu mir passt», erzählt sie. «Mir hat auch gefallen, dass hier die Wissenschaft ein neues Gesicht bekommt. Und nicht zuletzt war ich auch einfach sehr neugierig.»
«Mir hat auch gefallen, dass hier die Wissenschaft ein neues Gesicht bekommt. Und nicht zuletzt war ich auch einfach sehr neugierig.»
Tatsächlich war die Art von Führungsverantwortung, wie sie sie als Präsidiumsmitglied erlebt hat, eine ganz neue Erfahrung für sie. «Ich habe gelernt, wie Institution Normen formen», erzählt sie, «und wieviel Engagement das fordert. Du kannst nicht einfach irgendwelchen Vorgaben folgen.» Auch wenn sie nicht ins Detail geht, wird klar: Leicht war das erste Jahr nicht – und zwar nicht nur wegen der Corona-Pandemie und der dadurch erschwerten Kennenlernphase. Die Junge Akademie verfolgt einen kollaborativen Ansatz und steht damit quer in der akademischen Landschaft, die durch Wettbewerb geprägt ist. Ein Beispiel für dieses Zurücktreten hinters Kollektiv sei die Tatsache, dass sich niemand in den Vordergrund drängen wollte und für das Amt des Sprechers oder der Sprecherin kandidierte – und die Kandidatur schliesslich per Los getroffen wurde, meint Pearce. Es ist dieser Geist, der die Junge Akademie auch in die Zukunft tragen soll. «Wir sind noch mitten in diesem Prozess, uns auf eine gemeinsame Philosophie zu einigen», sagt BinBin Pearce. «Aber was ich schon sagen kann: Jedes Mitglied sollte sich die Frage stellen, was es als Individuum für die Akademie beitragen kann, was es aus seiner Disziplin mitbringt und wie wir die Gesellschaft voranbringen können. Dabei müssen wir überlegen, wie wir von unseren jeweiligen Einsichten profitieren und Silodenken vermeiden können.»
«Die Lehre ist der Kern der Wissenschaftsvermittlung. Wir sollten das hervorheben.»
Für ihr zweites Amtsjahr hat sie sich vorgenommen, selbst in einem gemeinsamen Projekt tätig zu werden. Auch ist es ihr ein grosses Anliegen, der interdisziplinären Lehre im akademischen Betrieb zu mehr Ansehen zu verhelfen– der Lehre überhaupt. «Die Lehre ist der Kern der Wissenschaftsvermittlung. Wir sollten das hervorheben», sagt sie. Sie erhofft sich auch, dass das Mentoring-Programm der Jungen Akademie in den nächsten Monaten richtig Fahrt aufnimmt – und im besten Fall Schule macht. «Es wäre toll, wenn wir als Junge Akademie eine Art Manuskript entwickeln könnten, das an den verschiedensten Institutionen angewendet werden kann.»
Sie ist dankbar, dass sie in zwei verschiedenen Kulturen gross geworden ist und so früh für ganz unterschiedliche Werte und Weltanschauungen sensibilisiert wurde. «Meine Mutter war Ärztin in der roten Armee – das muss man sich mal vorstellen», erzählt sie, «und dann landen wir im USA der 1980er Jahre, wo das Individuum über allem anderen steht.» BinBin Pearces Eltern waren damals mittellose Studierende und wollten eigentlich in ihre Heimat zurück. Doch dann kam das Tiananmen-Massaker – und sie blieben in Kalifornien, wo sie noch heute leben. «Sie verstehen nicht, warum ich nochmals emigriert bin», sagt die Neu-Luzernerin lachend. «Ich habe mich eigentlich nie in der Schweiz gesehen. Aber ich liebe dieses Land.» Noch heute fühle sie sich «sehr amerikanisch», wenn sie die Städte und Landschaften der Schweiz erkundet, schwärmt von den Lärchenwäldern und den Bartgeiern im Nationalpark und erinnert sich an ihren ersten Eindruck von Bern. «Ich habe mich gefragt, ob das wirklich eine Stadt ist oder nicht etwa ein Museum.» Diese Begeisterung ist bis heute geblieben.
«Ich bin der Wissenschaft verpflichtet.»
Wo sie in 5 Jahren ist? «Wer weiss?», sagt sie. Nur eines weiss sie gewiss. «Ich bin der Wissenschaft verpflichtet.» Als Koordinatorin des Horizon 2020 Projekts lebt sie dieser Verpflichtung nach: Ein Projekt, das wie zugeschnitten auf BinBin Pearce ist. Es will die Energiewende in Europa voranbringen – und zwar durch den Austausch und die gemeinsame Schaffung von neuem Wissen und Praktiken unter Einbezug möglichst vieler Bürgerinnen und Bürgern der Zivilgesellschaft.
BinBin Pearce ist Forscherin und Dozentin am Transdisciplinarity Lab des Departements Umweltsystemwissenschaften an der ETH Zürich. Sie studierte Umweltingenieurwesen an der Universität Stanford und promovierte am Institut für industrielle Ökologie der Yale School of Forestry and Environmental Studies (FES). Bei der Jungen Akademie ist sie seit 2020 Mitglied des Präsidiums.
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