Wissenschaft vernetzen.

Die Junge Akademie Schweiz vernetzt Nachwuchsforschende aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen und bildet ein inspirierendes Umfeld für inter- und transdisziplinäre Begegnungen und innovative Ideen. Die Mitglieder sind Ansprechpartner:innen für die Schweizer Wissenschaft und gelten als die junge Stimme der Akademien der Wissenschaften Schweiz.

"Künstliche Intelligenz fällt nicht vom Himmel"

Anna Jobins Weg in die Wissenschaft war nicht gradlinig: Sie hat mal bei der damaligen Swissair angeheuert, in der Filmbranche gejobbt, später Soziologie, Volkswirtschaft und Informatik studiert und forscht heute zu künstlicher Intelligenz sowie zur Gouvernanz der Digitalisierung. Die Junge Akademie ist für Gründungsmitglied Jobin ein Ort gelebter Diversität und Innovation.
 

Interview I Astrid Tomczak-Plewka

Anna Jobin, Sie beschäftigen sich mit der Ethik von künstlicher Intelligenz. Können wir ChatGPT Ethik beibringen?

Das ist eine unmögliche Frage! Es geht doch darum, wie wir mit der Technik umgehen, was wir von der Technik erwarten und wie sie sich auswirkt. Ich habe gemeinsam mit Ethiker:innen Richtlinien für KI untersucht. Als Sozialwissenschaftlerin interessiert mich dabei die Frage: Welche Werte stecken hinter solchen Richtlinien, welche werden reinprojiziert und welche Normen entstehen daraus. KI fällt ja nicht vom Himmel, und wir müssen dann damit leben. Menschen können entscheiden, wo und wie KI eingesetzt wird oder auch nicht. Das tönt banal, und trotzdem ist es noch nicht überall angekommen, weder in der Politik noch in der Gesellschaft.

 

Aber viele Menschen haben Angst vor der Künstlichen Intelligenz, zum Beispiel, dass sie sich selbständig machen könnte.

Diese Ängste gilt es wahrzunehmen, aber es lohnt sich hinzuschauen, von wem sie geschürt werden und wie sie sich äussern. Grundsätzlich ist ja die Angst vor dem Kontrollverlust, dass da plötzlich irgendwelche automatisierten Entscheidungen getroffen werden, dass man einen Teil der Autonomie verlieren könnte, durchaus berechtigt. Da gibt es viele Beispiele wie die problematische Verteilung von Ressourcen bei Arbeitslosigkeit in Österreich, die skandalöse automatisierte Benotung in England im Jahr 2020, oder die fehlerhafte, diskriminierende Pseudokontrolle von Sozialhilfeempfang in den Niederlanden. Das hat nichts mit Roboteraufständen sondern mit bewussten Entscheidungen zu tun. Da haben Menschen Kriterien und deren Umsetzung beschlossen. Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei anderen technologischen Entwicklungen: Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen, und wie wir ihnen gesellschaftlich und politisch begegnen.

 

"Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei anderen technologischen Entwicklungen: Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen, und wie wir ihnen gesellschaftlich und politisch begegnen."

 

Sie sind dreifache Mutter. Wie prägt das Muttersein Ihre Arbeit und Forschung?

Es hat mich wie auch die anderen Facetten meines Lebens schon immer geprägt, auf vielen Ebenen. Eigentlich spreche ich nicht gerne öffentlich darüber, da meine Familie Privatsache ist und Vorurteile gegenüber Müttern nach wie vor verbreitet sind. Anderseits trägt ja die Sichtbarkeit auch zu positiven Veränderungen bei, darum gehe ich dieser Frage jetzt weniger aus dem Weg als früher. Zudem hat die Tatsache, dass ich Mutter bin, auch hilfreiche Nebenwirkungen. Ich betreibe Gegenwartsforschung und bin durch meine Kinder noch näher am digitalen Alltag. So erfahre ich von gewissen Plattformen für Kinder und Jugendliche, von Chancen und Risiken, Themen und Nutzungsarten, lange bevor diese Themen im Forschungsmainstream angekommen sind. Aber letztlich geht es selbstverständlich nicht darum, ob jemand Kinder hat oder nicht, sondern um verschiedene Perspektiven. Wir wissen aus der Forschung über Wissenschaft selber, wie wichtig es ist, dass Menschen mit verschiedenen Lebenserfahrungen und Lebensumständen in der Wissenschaft aktiv sind.

 

Verschiedene Perspektiven in den Akademienverbund reinzubringen, ist ja auch ein Anspruch der Jungen Akademie Schweiz. Sie sind Gründungsmitglied, wie sind Sie zur JAS gekommen?

Der Anspruch an Interdisziplinarität und der Austausch mit anderen hat mich vom ersten Studientag an interessiert. Die Junge Akademie ist ein wertvolles Gefäss dafür. Was mir an der Jungen Akademie besonders gefällt ist die Tatsache, dass die Mitglieder keinen elitären Anspruch haben, sondern diese Interdisziplinarität leben. Es geht nicht um eine Plattform für Exzellenz – dafür gibt es Preise. Die Junge Akademie gibt uns die Freiheit, uns einzubringen, uns auszutauschen, und zwar ohne den Druck, zu produzieren, zu publizieren. Auch die Diversität in der Jungen Akademie spricht mich sehr an.

 

"Die Junge Akademie gibt uns die Freiheit, uns einzubringen, uns auszutauschen, und zwar ohne den Druck, zu produzieren, zu publizieren."

 

Sie haben sich unter anderem beim Projekt «Covid 19 und Fake News» der Jungen Akademie Schweiz beteiligt. Die Resultate eurer Untersuchungen werden demnächst publiziert. Wie kann die Junge Akademie damit Menschen von Verschwörungstheorien wegbringen?

Unser Ziel war nicht primär, jeden Einzelnen zu erreichen und abzuholen, sondern aufzuzeigen, wie der Wissensstand zu diesen Themen ist, was laut Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis die Zukunft bringt, und wie wirksame Prävention aussehen könnte. Dabei fällt beispielsweise immer wieder der Begriff der «literacy» - aber was heisst das denn? Menschen sollen kritisch abwägen und Dinge hinterfragen? Genau das wird dann auch auf wahrhaftige Information angewendet: Plötzlich glaubt man nichts mehr, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen gezeigt wird. Dabei geht es bei Literacy ja nicht darum, einfach alles zu hinterfragen, um sich eine eigene Wahrheit zusammenzuzimmern. Sondern es geht darum, zu evaluieren, zu fragen, auf welcher Grundlage man was wie gewichtet. Für wirksame Prävention spielen auch vertrauenswürdige Institutionen eine wichtige Rolle, sowie Technologien, Designentscheidungen und andere Aspekte.

 

Welchen Wunsch geben Sie der Jungen Akademie für die Zukunft mit?

Ich hoffe, dass der Umgang untereinander weiterhin so konstruktiv bleibt und dass die Junge Akademie als autonome, unabhängige Stimme der Wissenschaft und der Nachwuchswissenschaftler:innen funktionieren kann und wahrgenommen wird.

 

"Kluge Köpfe gibt es in der akademischen Welt viele, und mich beeindrucken vor allem jene, die gleichzeitig auch ihre Menschlichkeit leben."

 

Wenn Sie auf Ihre bisherige akademische Laufbahn blicken: Hatten Sie oder haben Sie Vorbilder oder Menschen, die Sie besonders geprägt haben?

Es gibt immer wieder Menschen, die mich inspirieren oder prägen, am meisten meine wohlwollenden Mentor:innen. Kluge Köpfe gibt es in der akademischen Welt viele, und mich beeindrucken vor allem jene, die gleichzeitig auch ihre Menschlichkeit leben.

 

Welche persönlichen beruflichen Ziele haben Sie noch?

Mir gefällt die jetzige Kombination meiner Aktivitäten sehr, und das Institut Human-IST der Universität Fribourg ist ein toller Ort für interdisziplinäre Forschung. Aber ein Ziel ist schon, irgendwann mal mehr Jobsicherheit zu haben als die derzeitigen Strukturen uns Early Career Researchers gewähren. Diese Strukturen setzen auch seltsame Anreize: Als beispielsweise das Präsidium der Eidgenössischen Medienkommission an mich herangetragen wurde, riet mir tatsächlich mehr als ein Professor, das Mandat abzulehnen, um mich vollumfänglich dem Publizieren widmen zu können. Ich bin froh, habe ich diesen Rat nicht angenommen. Vielleicht kann ich jetzt zwar weniger Publikationen nachweisen, verfüge aber dafür über eine einmalige, überaus sinnstiftende Erfahrung.

 

Welchen Tipp geben Sie jungen Menschen, die am Anfang ihrer Studien- oder Berufswahl stehen?

Ich war nicht sehr strategisch und will nicht als gutes Beispiel dastehen (lacht). Also: Hört nicht auf mich, ich habe so ziemlich alles falsch gemacht, vom interdisziplinären Studium bis hin zum externen Doktorat, aber ich hatte auch immer wieder grosses Glück. Vielleicht dies: Wenn euch etwas wichtig ist, dann holt euch Unterstützung bei Menschen, die eure Werte respektieren und tut es.

Biografie

Anna Jobin (Jg. 1982) ist in Belp geboren, in der Ostschweiz aufgewachsen und hat eine naturwissenschaftliche Matura abgelegt. Sie hat an der Universität Freiburg Soziologie, VWL und Wirtschafts-/Informatik studiert und danach an der EPFL, Cornell University und Tufts University geforscht. Nach einer Dissertation an der Universität Lausanne mit einer Arbeit über Algorithmen bei der Suchmaschinenwerbung war sie als Postdoc sn der ETH Zürich und als Senior Forscherin am Alexander von Humboldt Institut für Internet & Gesellschaft (HIIG), Berlin beim Projekt ShapingAI tätig. Aktuell arbeitet sie als Forscherin und Oberassistentin am Institut Human-IST der Universität Freiburg (CH), wo sie auch die Studienberatung für den neuen englischsprachigen Master Digital Society wahrnimmt. Zudem ist sie seit 2021 Präsidentin der Eidgenössischen Medienkommission.