Ich war schon immer gleichzeitig Musiker und Musikwissenschaftler. Musikwissenschaftler bin ich geworden, weil ich gemerkt habe, dass ich über das Studium der Musik und der Klänge die Welt um mich herum verstehen kann. Musik ist für mich wie ein Tor zur Welt.
Ich bin Berufsmusiker: einerseits klassischer Gitarrist und andererseits Komponist elektroakustischer Musik. In meiner Doktorarbeit an der Universität Paris-Sorbonne beleuchtete ich das Verhältnis zwischen Musik und Antifaschismus in den 1930er-Jahren. Ich befasste mich mit einem mexikanischen Komponisten, der sich in der Zweiten Spanischen Republik dem antifaschistischen Lager angeschlossen hatte. Ich wollte verstehen, wie sein politisches Engagement sein Verständnis für seine Musik verändert hatte. Das ist etwas, das mich auch in meinen späteren Forschungsprojekten an der École des hautes études en sciences sociales, der Universität Salzburg und der Universität Oxford begleitet hat.
«Man kann nicht einfach sagen, die Musik an sich sei gut oder schlecht. Der Sinn, den wir ihr geben, ist kontextuell, er hängt von der Situation ab.»
Man kann nicht einfach sagen, die Musik an sich sei gut oder schlecht. Der Sinn, den wir ihr geben, ist kontextuell, er hängt von der Situation ab. Beispielsweise wurden in Europa seit Beginn des Einmarschs in die Ukraine zahlreiche Solidaritätskonzerte organisiert. Diese Konzerte schaffen sehr vielfältige, gar gegensätzliche Diskurse und Sichtweisen bezüglich des Konflikts.
An der Jungen Akademie untersuchen wir komplexe gesellschaftliche Fragen mit transdisziplinären Ansätzen. Ich bin derzeit Teil einer Gruppe, die diese Ansätze fördert, indem sie den Dialog zu übergreifenden Konzepten wie zum Beispiel Freiheit oder Ungewissheit anstösst. Die Idee ist, diese Begriffe anhand verschiedener Disziplinen – Geschichte, Wirtschaftswissenschaften, Biologie, Physik, Recht – zu untersuchen und sie dann in transdisziplinärer Zusammenarbeit zu verwenden. Das Spannende daran ist, dass wir vorher nicht wissen, worauf wir in diesen Dialogen stossen werden.
Ich interessiere mich ebenfalls für die Verbindung zwischen Musik, Ethik und Politik. Im Rahmen des Projekts ONTOMUSIC der Universität Bern arbeite ich mit Komponistinnen und Komponisten verschiedenster Nationalitäten zusammen. Ausgehend von einem gemeinsamen Wissensaufbau, der auf Austausch beruht, untersuche ich die Zusammenhänge zwischen ihren politischen und ethischen Ansichten und ihren Kompositionstechniken und künstlerischen Ansätzen. Die ethische Dimension ist wichtig, denn sie ermöglicht, Fragen wie die Klimakrise, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit zu thematisieren. Aus dem Projekt entstehen Publikationen, aber auch Konzerte, Workshops und Podcasts.
«Am schlimmsten wäre in meinen Augen das Schweigen, so zu tun, als gäbe es dieses Leid nicht.»
Kürzlich habe ich die Komponistin Hilda Paredes eingeladen, die eine Oper über eine Geschichte des Menschenhandels und der sexuellen Sklaverei zwischen den USA und Mexiko geschrieben hat. Ich wollte mit ihr über ihre Motivation, ihre ästhetischen, musikalischen und politischen Entscheidungen sprechen, um zu analysieren, wie die Musik diese Menschenrechtsverletzungen erzählt. Ausserdem gibt es vielleicht Frauen, die solche Gewalttaten erlebt haben und die Oper im Inter net entdecken. Wenn sie feststellen, dass sich eine Komponistin mit diesem Thema befasst hat, hat dies womöglich eine gewisse Wirkung. Es entsteht ein Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschichte. Am schlimmsten wäre in meinen Augen das Schweigen, so zu tun, als gäbe es dieses Leid nicht.
Wenn ich an einen Wassertropfen denke, sehe ich eine winzige Handlung, die eine Vase zum Überlaufen bringen kann. Ich höre auch den Klang des Tropfens, der uns an etwas ganz Grundsätzliches heranführt, denn Wasser ist Leben.
Luis Velasco-Pufleau ist Musikwissenschaftler und Mitglied der Jungen Akademie Schweiz, wo er am Projekt «Foster Transdisciplinary Collaborations for Change» mitwirkt. Er ist im Übrigen Forscher auf Stufe Postdoktorat (Marie-Skłodowska-Curie- Programm der Europäischen Kommission) am musikwissen-schaftlichen Institut und Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern sowie an der Schulich School of Music der Universität McGill, wo er das Forschungsprojekt ONTOMUSIC leitet, das sich dem Verhältnis zwischen Musik, Ethik und Politik im 20. und 21. Jahrhundert widmet.
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