Er wählt seine Worte vorsichtig. Er lässt sich nicht so leicht aus der Reserve locken. Er wägt ab, bevor er antwortet. Lucas Müller, neuer Sprecher der Jungen Akademie Schweiz, Chemiker und Wissenschaftshistoriker. Keine Spur von jugendlichem Übermut beim 34-Jährigen. Vielleicht liegt das daran, dass Nachwuchsforschende in der Regel wenig Grund haben, übermütig zu sein. «Unsere Situation ist sehr unsicher», sagt Müller. «Oft ist man jahrelang in befristeten Anstellungen und stellt sich die Frage, welche Perspektive es gibt.» Der Frankfurter war ein guter Schüler, belegte im Gymnasium Chemie und Geschichte als Leistungskurs, studierte dann an der ETH Chemie. «Chemie ist die Wissenschaft, die von den kleinsten Molekülen bis hin zu den grössten Umwelteffekten reicht», sagt er. «Das hat mich interessiert.» Bachelorstudenten müssen an der ETH Wahlfächer aus dem Bereich Geistes-, Sozial-, und Staatswissenschaften belegen. Müller entschied sich für Wissenschaftsgeschichte und legte damit die Weiche für seine weitere akademische Laufbahn. Nach dem Masterabschluss an der ETH schloss er ein weiteres Masterstudium in Wissenschaftsgeschichte am Imperial College und University College in London ab und doktorierte danach in Wissenschaftsgeschichte am MIT in Cambridge, Massachusetts. Heute ist er Postdoktorand an der Universität Genf, soeben wurde seine Anstellung um zwei weitere Jahre verlängert, zwei Jahre Luft.
«Verstehen, wie wir zum Wissen über die Welt gelangen – und das gut erklären, durchs Unterrichten und durch Texte und Vorträge»
Wie würde er einem Kind seine Tätigkeit erklären? «Verstehen, wie wir zum Wissen über die Welt gelangen – und das gut erklären, durchs Unterrichten und durch Texte und Vorträge», sagt er. Durch seine Arbeit ermögliche er den Studierenden «einen kritischen Blickwinkel auf die Naturwissenschaften». Das Faszinierende an seinem Gebiet sei es, zu beleuchten, welche Grundannahmen Wissenschaftler treffen, die impliziten Ideen und Beziehungen sichtbar zu machen und die Wissenschaften als durchweg menschliches Unterfangen mit allen Konflikten und Interaktionen zu verstehen. Gerade beginnt er Antworten auf diese Fragen in der Geschichte der Schweizer Lawinenforschung zu zu suchen, seinem neuen Projekt, das versucht zu verstehen wie Wissenschaftler, Alpinisten und Bergwohner Naturkatastrophen und Umweltveränderungen verstanden und darauf reagiert haben. Fast wie Goethes Faust also: «Zu ergründen was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.»
Tatsächlich hat der junge Forscher mit seinem wissenschaftlichen Rucksack, das Zeug dazu, den Dingen auf den Grund zu gehen – und gleichzeitig das grosse Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. «Bei Themen wie Klimawandel oder Covid-Pandemie braucht es einen transdisziplinären Ansatz», sagt Müller. «Im Gegensatz zu den USA arbeiten hier in Europa noch viele in Silos. Ausserdem sind dort die Hierarchien viel flacher, es gibt mehr Raum für Diskussionen.» Diesen Raum für einen transdisziplinären wissenschaftlichen und intellektuellen Austausch hatte Lucas Müller vor Augen, als er sich für die Junge Akademie bewarb. Das erste Jahr hat er als Präsidiumsmitglied miterlebt. Es war geprägt von pandemie-bedingten Zoom-Meetings und viel administrativ-organisatorischer Aufbauarbeit. Jetzt will er sich als neuer Sprecher den inhaltlichen Fragen widmen. Dabei brennen ihm vor allem zwei Themen unter den Nägeln: «Wie können wir unsere Stimme an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft einbringen? Und wie können wir die Rahmenbedingungen für eine akademische Karriere verbessern?», sagt er – und es wird deutlich: Diese Fragen sind für ihn von einer Dringlichkeit, die ihn umtreibt. «Viele fragen sich: Mach ich weiter? Suche ich mir einen anderen Job? Kann ich Kinder haben?» Die befristeten Arbeitsverträge seien sehr belastend und gefährden die wissenschaftliche Integrität. Zudem gehe sehr viel Zeit für Bewerbungen und Anträge drauf. «Manchmal frage ich mich schon, warum ich mir das antue», sagt Müller. Konkrete Zukunftsängste habe er zwar nicht, aber die Situation gebe Anlass zur Sorge. Zudem fördere die dauernde und wiederholte Mobilität auch nicht die wissenschaftliche Arbeit. «Ich bin schon oft umgezogen, und jedes Mal braucht es wieder Zeit, anzukommen, Beziehungen an einer neuen Universität zu knüpfen und Kooperationen aufzubauen.» Vorerst ist Lucas Müller in Genf angekommen. Obwohl: Durch die Corona-Pandemie wurde das Ankommen erschwert. Eine Hilfe ist dabei Lucas Müllers Mitgliedschaft im Schweizerischen Alpenclub. In der Schweiz hat er den Bergsport entdeckt. Viele Bergtouren – zu Fuss im Sommer, auf den Ski im Winter – führen ihn ins nahe Wallis, das er schon aus seiner Kindheit kennt. «Wir waren oft im Val d’Anniviers im Skiurlaub», sagt er. In den Bergen ist sein abwägendes Wesen bestimmt kein Nachteil. «Ich bin sicher kein Draufgängertyp», sagt er. «Ich informiere mich schon vorher, wo es hingeht, wie die Situation ist.»
«Manchmal frage ich mich schon, warum ich mir das antue»
Argumente abzuwägen und zu diskutieren: Das hat Lucas Müller im Elternhaus mitbekommen, sein Vater ist Arzt, seine Mutter Lehrerin, die Schwester Dokumentarfilmerin in Wien. Politik und Kultur waren dominierende Themen. Schon damals also ein «weites Feld», das den jungen Lucas fürs weitere Leben geprägt hat. Sein Amt als Sprecher der Jungen Akademie sieht er als «grosse Verpflichtung und Herausforderung. Meine Rolle als Sprecher ist es auch, die Akademie gegenüber der Politik in einer entscheidenden Phase zu vertreten, jetzt wo Bundesrat und Parlament an der nächsten BFI-Botschaft arbeiten.» Für ihn ist klar: «Das akademische System ändert man nicht in einem Jahr, aber wir können Reformen anstossen», sagt er. Teil dieses Reformprozesses zu sein – darauf freut er sich. Denn: «einfach rumzusitzen und zu hoffen» ist nicht sein Ding. Und er ist auch sehr gespannt, erste Resultate aus den Projekten der Jungen Akademie zu sehen. Er selber ist Teil des Projektteams «Challenging Inequalities», das die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse und die fehlende Chancengleichheit und Diversität von Nachwuchsforschenden thematisiert und Lösungsansätze aufzeigen soll.
«Das akademische System ändert man nicht in einem Jahr, aber wir können Reformen anstossen»
Wer Lucas Müller sprechen hört, merkt: Da will einer was in Gang bringen – allen Widrigkeiten zum Trotz. Im Grunde ist er einfach ein Forscher, der seinen Platz auch künftig in der Wissenschaft sieht: «Ein permanenter Job in Lehre und Forschung wäre schön», sagt er. Dabei spielt ein Lächeln um seinen Mund. Das Lächeln eines Menschen, der sich nicht für den einfachsten, nicht für den lukrativsten, aber für seinen Weg entschieden hat. Und der weiss, dass man einen hohen Berg normalerweise nicht als Gipfelstürmer bezwingt, sondern mit vielen stetigen kleinen Schritten.
Lucas Mueller ist Postdoktorand an der Universität Genf und 2021/22 Sprecher der Jungen Akademie Schweiz. Lucas hat am Massachusetts Institute of Technology in Geschichte, Anthropologie und Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft promoviert. Er besitzt Abschlüsse in Chemie der ETH Zürich und in Geschichte der Wissenschaft, Medizin und Technologie des Imperial College London und des University College London.
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