In seinem Berufsalltag als Bio-Informatiker hat er einen sehr fachspezifischen Blick auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, vor allem im Gesundheitsbereich. Umso wichtiger ist es ihm deshalb, sich als Mitglied der Jungen Akademie Schweiz auch in anderen drängenden Themen zu engagieren. Gustavo Ruiz Buendía sagt: «Wir wollen Probleme adressieren, die der Jugend unter den Nägeln brennen.»
Porträt I Astrid Tomczak-Plewka
Er wählt seine Worte mit Bedacht: «Ich möchte Schüchternheit nicht als Fehler brandmarken. Aber wenn ich jungen Menschen einen Tipp geben würde, dann diesen: Haltet euch nicht zurück.» Gustavo Ruiz Buendia fühlte sich zwar schon immer wohl vor Publikum. Als er jedoch vor ein paar Jahren anfing, Improvisationstheater zu spielen, konnte er seine Art, vor Menschen aufzutreten, neu entdecken. «Das hat mein Leben verändert», sagt der 33-Jährige. «Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen lernte ich dort meinen Ehemann kennen, und zum anderen lernte ich, zu präsentieren.» Der zweite Tipp: «Habt keine Angst, was Neues zu entdecken, verschiedene Dinge auszuprobieren, Fragen zu stellen. Fragt, fragt und fragt nochmals.»
Gustavo wuchs in Mexiko gemeinsam mit einer jüngeren Schwester auf. Seine Eltern arbeiten beide an der Landwirtschaftsuniversität CHAPINGO in der Kleinstadt Texcoco und hatten als erste in ihrer Familie eine höhere akademische Ausbildung absolviert. Sie waren «sehr enthusiastisch», was die Bildung ihrer Kinder und auch ihre eigene Tätigkeit betraf. «Mein Vater stammte aus ärmlichen Verhältnissen», erzählt Gustavo. Die staatliche Universität war für ihn die einzige Möglichkeit aufzusteigen. Über seine Mutter sagt er: «Sie liebte Biochemie.» Diese Begeisterung übertrug sich auf den Sohn: Als es um die Berufswahl ging, war für ihn schnell klar, dass es in eine ähnliche Richtung gehen sollte. «Es gab an der Nationaluniversität von Mexiko (UNAM) ein Programm, das Biologie, Chemie und Programmieren kombinierte. Das wollte ich machen.» Doch der junge Mann bestand die Aufnahmeprüfung nicht. Zunächst brach für ihn eine Welt zusammen. «Rückblickend muss ich sagen: Mir war damals nicht bewusst, dass dieses Programm der Forschung gewidmet ist.» Er absolvierte einen Jahreskurs in allgemeiner Biologie. Als er dann im zweiten Anlauf das Studium in Angriff nehmen konnte, wusste er, worauf er sich einliess. «Im Nachhinein war dieses Zwischenjahr ein Segen, ich bin viel reifer geworden.» Gustavo studierte also «Genomic Sciences», einen Studiengang, in dem sich die Studierenden im 4. Studienjahr ganz der Forschung widmen. Gustavo verbrachte dieses Jahr im Cold Spring Harbor Laboratory in New York. Sein Betreuer empfahl ihm eine Forschungsgruppe in der Schweiz, so kam er dann fürs Masterstudium an die Uni Lausanne, wo er auch sein Doktorat in integrativer experimenteller und computergestützter Biologie machte.
«Diversität wird oft auf Gender reduziert»
2020 schloss er sein Doktorat ab, im gleichen Jahr wurde er Mitglied der Jungen Akademie Schweiz. «Für mich war das eine super Gelegenheit, mich mit anderen Nachwuchsforschenden zu vernetzen und mir auch Sichtbarkeit zu verleihen», sagt er. Zudem habe ihn angesprochen, dass der Fokus der Jungen Akademie darauf liege, aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen auch ausserhalb des Gesundheitsbereichs zu adressieren. «Das ist in meinem Berufsalltag nicht so. Ich war sehr gespannt auf den Austausch mit Menschen aus Sozialwissenschaften, Gender Studies oder Jura und von ihnen zu lernen.» Haben sich seine Erwartungen erfüllt? «Unbedingt», sagt er mit Nachdruck. «Es war mir von Anfang an kristallklar, dass die Mitglieder sehr enthusiastisch bei der Sache sind.» Exemplarisch dafür sei der erste gemeinsame Ausflug gewesen. «Schon auf dem ersten Spaziergang entwickelten wir eine Projektidee.» Das Projekt, dessen Geburtsstunde in den Bergen von Crans-Montana schlug, war «Challenging inequalities and precarious working conditions in Swiss academic institutions». Damit wollten die Gruppenmitglieder die prekären Arbeitsbedingungen von Nachwuchsforschenden sowie die systematischen Ungleichheiten thematisieren, denen Minderheiten in der akademischen Landschaft der Schweiz ausgesetzt sind. «Diversität wird oft auf Gender reduziert», erklärt Gustavo. Die Gruppe habe deshalb entschlossen, insbesondere Minoritäten wie People of Color, Personen jüdischen oder muslimischen Glaubens, Wissenschaftler:innen der ersten Generation und Migrant:innen zu adressieren. «Ich gehöre als Migrant, Nichtweisser und Homosexueller auch dazu», sagt er. Die grösste Herausforderung in der Schweiz sei es gewesen, nach dem Doktorat eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.
Hat dieses Projekt etwas bewirkt? «Im ersten Jahr ging es vor allem darum, zu verstehen, wo die Probleme liegen. Dazu haben wir Betroffene eingeladen. Im zweiten Jahr konnten wir dann ein Netzwerk aufbauen, wo sich Betroffene unterstützen und wichtige Informationen austauschen.» Ausserdem sei es gelungen, Kontakte mit verschiedenen Stakeholdern aufzubauen und erste Empfehlungen zu formulieren. «Ich denke, wir haben durchaus etwas erreicht.» Inzwischen ist das Projekt abgeschlossen, jetzt engagiert sich Gustavo in einem Projekt, in dem er und seine Mitstreiter:innen zeigen wollen, welchen Beitrag die transdisziplinäre Zusammenarbeit zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten kann. «Die Mitglieder der Jungen Akademie bringen ganz verschiedene Hintergründe mit sich. Das bietet eine einzigartige Möglichkeit der Zusammenarbeit», betont der Biologe. Mit diesem Projekt will die Junge Akademie auch ein nicht akademisches Publikum erreichen, insbesondere junge Leute. «Wir wollen Probleme adressieren, die der Jugend unter den Nägeln brennen wie beispielsweise Klimawandel und Energiekrise.» Geplant sind Podcasts mit Wissenschaftler:innen, die genau zu diesen Themen forschen.
«Die Mitglieder der Jungen Akademie bringen ganz verschiedene Hintergründe mit sich. Das bietet eine einzigartige Möglichkeit der Zusammenarbeit»
Wo seine eigene Zukunft liegt, ist für Gustavo Ruiz Buendía offen. Zurzeit arbeitet er am Schweizerischen Institut für Bio-Informatik, wo er vor allem im Bereich Impfstoffe und Onko-Immunologie tätig ist. Diese Umsetzung von Forschungsergebnissen ist ihm sehr wichtig, deshalb würde er auch künftig gerne weiter auf dem Gebiet der translationalen Forschung arbeiten. «Entweder in der Akademie oder in der Industrie. Ich bin bestrebt, die menschliche Gesundheit durch grenzübergreifende Forschung zu verbessern.» Auch geografisch ist nicht klar, wohin es ihn dereinst verschlagen wird. Das dürfte auch davon abhängig sein, welche Job-Möglichkeiten seinem französischen Ehemann offenstehen, der zurzeit eine befristete Anstellung an der Uni Lausanne hat.
Klar ist ihm hingegen, welche Ziele er noch mit der Jungen Akademie verfolgt: «Ich möchte weiterhin an Projekten arbeiten, die einen nachhaltigen Effekt haben – und zwar nicht nur auf die akademische Welt», betont er. Und er wolle dazu beitragen, dass dieses Netzwerk weiterhin offen ist für Forschende mit verschiedenen Backgrounds. Diesen Idealen lebt er auch in seiner Freizeit nach – sei es beim Improvisationstheater oder beim «Voguing», einem Tanzstil, der in den 1960er Jahren in der Ballroom-Szene der schwarzen und lateinamerikanischen LGBTQIA+-Subkultur in New York entstand und zu einer sozialen Bewegung geworden ist, in der queere Menschen auf Bällen ihre Leidenschaft für die Community, Tanz und Mode ausleben können. Ob sein Partner mittanzt? «Nein», sagt Gustavo lachend. «Er ist fürs Kochen zuständig.» Ausser natürlich, wenns um die mexikanische Küche geht. Rund einmal im Jahr fährt er nach Mexiko. «Ich sage es manchmal ein bisschen wie im Spass – aber eigentlich stimmt es: Am meisten vermisse ich das Essen, die Familie und die Freunde», sagt er lachend. Ausserdem kenne er einfach den «gesellschaftlichen Code». In Mexiko sei es viel einfacher, in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen. Das beste Beispiel dafür ist vielleicht seine Mutter: «Sie hat überall Freunde. Das ist manchmal schon lustig – wenn wir früher als Familie weggefahren sind, wollte sie überall noch jemanden besuchen», erinnert er sich. «Wir mussten sie manchmal daran erinnern, dass wir einen Familienurlaub machen.» Gleichzeitig betont er, dass er von seiner Mutter gelernt habe «mit Freude durchs Leben zu gehen», während sein Vater ihm vor allem eines beigebracht habe: hart zu arbeiten. Überhaupt seine Familie: Sie sei es, die ihm die wichtigsten Lektionen und Werte fürs Leben mitgegeben habe – am meisten vielleicht seine Schwester. «Obwohl sie jünger ist, ist sie ein Vorbild für mich», sagt er. «Sie ist sehr entschlossen. Wenn sie etwas will, erreicht sie es auch.» Gleichzeitig sei sie eine sehr liebe und grosszügige Person. «Jedes Mal, wenn ich an sie denke, muss ich lächeln.» Und tatsächlich: In diesem Moment strahlt der grosse Bruder übers ganze Gesicht.
Von Mexiko nach Lausanne
Gustavo Ruiz Buendía (Jg. 1990) ist in Mexiko geboren und aufgewachsen, hat aber als Jugendlicher mit seiner Familie einige Jahre in den USA verbracht. Er hat in Mexiko einen Bachelor in Genomic Sciences gemacht und im letzten Jahr seines Bachelorstudiums im Cold Spring Harbor Laboratory in New York ein Forschungspraktikum absolviert. Für sein Masterstudium ist er nach Lausanne gekommen, wo er auch doktoriert hat. Er ist Gründungsmitglied der Jungen Akademie Schweiz und unter anderem bei «The Catalyst» aktiv, einem Science-Entertainment-Kollektiv, das wissenschaftliche Themen mittels Improvisationstheater einer breiten Öffentlichkeit vermittelt.