Wissenschaft vernetzen.

Die Junge Akademie Schweiz vernetzt Nachwuchsforschende aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen und bildet ein inspirierendes Umfeld für inter- und transdisziplinäre Begegnungen und innovative Ideen. Die Mitglieder sind Ansprechpartner:innen für die Schweizer Wissenschaft und gelten als die junge Stimme der Akademien der Wissenschaften Schweiz.

Ein Makroökonom, der sich nicht vor Feldarbeit scheut

Charles Gottlieb wurde sich schon in jungen Jahren der bestehenden Ungleichheiten bewusst und wandte sich früh der Makroökonomie zu. Heute ist er Professor an der Aix-Marseille School of Economics in Frankreich, wo er die Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung in Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen untersucht. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit wirkt er seit ihren Anfängen bei der JAS mit und hat sich für eine stärkere Vertretung des Mittelbaus bei den Schweizer Akademien eingesetzt.

 

Interview I Kalina Anguelova

Nach acht Jahren als Assistenzprofessor an der Universität St. Gallen haben Sie Anfang 2024 als Professor für Makroökonomie an die Aix-Marseille School of Economics in Frankreich gewechselt. Gefällt es Ihnen in der Schweiz nicht mehr?

Oh doch, es gefällt mir sogar sehr gut hier in meiner Wahlheimat. Ich bin inzwischen 41 Jahre alt und war lange genug als Assistenzprofessor tätig. Es war an der Zeit, mir eine Festanstellung zu suchen. In Marseille kann ich das Studienprogramm mitgestalten, Student:innen betreuen und mich mit ihnen austauschen. Es gefällt mir, den Unterricht und die Forschungskultur in meinem Sinne und zum Vorteil eines Bildungs- und Forschungsinstituts zu beeinflussen.

 

Auf welchem Gebiet forschen Sie gegenwärtig?

Meine Forschungsarbeit befasst sich mit dem langfristigen Wachstum. Dabei interessiere ich mich insbesondere für die Länder mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen und ich untersuche die sozioökonomischen Hindernisse, welche ihrer wirtschaftlichen Entwicklung im Wege stehen. Ich versuche zum Beispiel zu verstehen, mit welchen wirtschaftspolitischen Massnahmen die Schaffung von Arbeitsplätzen ausserhalb des Landwirtschaftssektors, insbesondere in städtischen Gebieten, gefördert werden kann. Zudem erforsche ich die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Insbesondere untersuche ich, welche Normen es für Frauenarbeit gibt und wie sich diese auf die Beschäftigung der Frauen in diesen Ländern auswirken.

 

"Ich versuche zum Beispiel zu verstehen, mit welchen wirtschaftspolitischen Massnahmen die Schaffung von Arbeitsplätzen ausserhalb des Landwirtschaftssektors, insbesondere in städtischen Gebieten, gefördert werden kann."

 

Welche Erkenntnisse zeichnen sich ab?

Der Schwerpunkt meiner Forschung liegt auf der Arbeitsproduktivität im Landwirtschaftssektor. In Äthiopien zum Beispiel arbeiten 70% der Bevölkerung im Agrarsektor tragen aber nur 20% zum Bruttoinlandsprodukt bei und das Land importiert Nahrungsmittel. Das lässt auf eine sehr geringe Produktivität im Landwirtschaftssektor schliessen. Warum arbeiten die Menschen weiterhin im Agrarsektor, obwohl die Arbeitsproduktivität so gering ist? Warum wandern nicht mehr Menschen vom Land in die Stadt ab? Mit welchen wirtschaftspolitischen Massnahmen könnte die Schaffung von Arbeitsplätzen ausserhalb des Landwirtschaftssektors gefördert werden? Mit diesen Fragen befasse ich mich in meiner Forschungsarbeit.

 

Können Sie ein Beispiel für eine Massnahme nennen, mit der ein Wandel herbeigeführt werden könnte?

Die Bodenpolitik. In vielen afrikanischen Ländern südlich der Sahara gibt es kein privates Grundeigentum, so wie wir es kennen. Nur wer in seinem Dorf bleibt behält seinen Grund und Boden. Somit zwingt die Bodenpolitik die Menschen dazu, auf dem Land zu bleiben und den Boden zu bewirtschaften, obwohl sie anderswo wahrscheinlich produktiver eingesetzt werden könnten. In einer meiner Studien wird aufgezeigt, dass eine Landreform zu einem Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens um 10% beitragen würde.

 

Glauben Sie, dass Forschungsarbeiten wie die Ihre etwas verändern können?

Ja, Schritt für Schritt. Während meines Postdoc an der Universität Cambridge reiste ich nach Äthiopien und Uganda, um Daten zu sammeln. Ich verbrachte dort viel Zeit damit, die Institutionen für Grundeigentum und die Strukturen der Eigentumsrechte an Grund und Boden zu verstehen. Ich habe mich mit Bauern, Dorfvorstehern und Vertretern verschiedener Institutionen unterhalten. Zusammen mit Kollegen vor Ort trafen wir uns mit dem Berater des Wirtschaftsministeriums in Äthiopien, um vor allem über Fragen des Bodenrechts zu sprechen. Ich arbeite auch mit der Weltbank zusammen. Mein Ziel ist es, internationale Organisationen mit meinen Forschungsarbeiten dazu zu bewegen, Landreformen anzuregen und die Entwicklung und Arbeitsproduktivität im Agrarsektor in den betroffenen Ländern zu fördern.

 

"Ich bin in Madagaskar aufgewachsen und die dort gemachten Erfahrungen haben mich tief geprägt und mein Interesse für die sozioökonomischen Ungleichheiten geweckt."

 

Woher kommt Ihr Interesse für die Makroökonomie?

Ich bin in Madagaskar aufgewachsen und die dort gemachten Erfahrungen haben mich tief geprägt und mein Interesse für die sozioökonomischen Ungleichheiten geweckt. Ich wurde dadurch auch für das Schicksal der Ärmeren sensibilisiert. Während meiner Doktorarbeit habe ich gelernt, mit statistischen Werkzeugen und Techniken zur Untersuchung von Ungleichheiten umzugehen. Diese Fähigkeiten möchte ich nun nutzen, um einen Beitrag zu den jüngsten Erkenntnissen der Entwicklungsökonomie zu leisten. Als Makroökonom versuche ich zu verstehen, ob und wie die Bildungspolitik und die Bodenpolitik, die auf lokaler Ebene "funktionieren", auch auf der Ebene eines ganzen Landes oder in anderen Ländern funktionieren können. Darum habe ich eine Forschungsagenda entwickelt, in der wir Methoden der Makroökonomie auf die Situation von Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen anwenden, um diese Fragen zu beantworten.

 

Mit 23 haben Sie ein Jahr lang im Investmentbanking gearbeitet und anschliessend in einer belgischen Denkfabrik, bevor Sie erneut den akademischen Weg einschlugen ...

Meine Erfahrungen in der Privatwirtschaft haben meine Wissbegierde weiter angefacht und mir klar gemacht, dass ich noch mehr dazulernen wollte. Deshalb bin ich an die Uni zurückgekehrt. Zuerst nach Florenz, um meine Doktorarbeit zu schreiben. Danach für ein Postdoc nach Oxford. Das hat mich unglaublich inspiriert. Ich war beeindruckt von den Menschen, die ich dort getroffen habe, und die trotz ihrer herausragenden fachlichen Kompetenzen bescheiden geblieben sind und ihr Fachwissen grosszügig teilten.

 

Hat Ihnen Oxford den Anstoss zu Ihrer gegenwärtigen Forschung gegeben?

Richtig. Dort habe ich begonnen, meine derzeitige Forschungsagenda aufzustellen.

 

Gab es dafür einen bestimmten Auslöser?

Ja. Ich lernte dort einen Professor kennen, der mich ermutigte und mich dazu drängte, auf diesem Gebiet zu forschen.

 

"Unterrichten ist eine erfüllende Aufgabe und hält einen jung."

 

Macht Ihnen das Unterrichten Spass?

Es ist eine erfüllende Aufgabe und hält einen jung. Es gefällt mir vor allem, den Studierenden mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und sie in verschiedenen Programmen unterzubringen. Ich erlebe gerade, wie meine ersten Studierenden eine Assistenzprofessur antreten oder ihre Doktorarbeit abschliessen.

 

Was hat Sie dazu bewegt, der JAS beizutreten?

Meine Frau und ich haben eigentlich per Zufall von der JAS erfahren. Heute sind wir beide Mitglieder. Wir haben uns bei der JAS engagiert, weil wir uns für eine besserer Repräsentation der Nachwuchsforschenden an den Schweizer Universitäten einsetzen wollen. Als wir in die Schweiz kamen, entdeckten wir das Konzept des Mittelbaus, des wissenschaftlichen Nachwuchses, der sich aus den Forschenden ohne Professorentitel und anderen wissenschaftlichen Mitarbeitenden zusammensetzt. Diese bilden zwar an den Universitäten und Hochschulen die Mehrheit doch ihre Interessen sind im Vergleich zu jenen der Professorenschaft stark untervertreten, obwohl sie eine wesentliche Rolle für das Funktionieren der akademischen Welt spielen. Mit meinem Engagement bei der JAS habe ich dazu beigetragen, dem Mittelbau ein Gesicht zu verleihen und seine Vertretung innerhalb der Schweizer Akademien zu stärken.

 

Wie haben Sie das konkret bewerkstelligt?

Indem ich zum Aufbau von Doktoratsschulen angeregt habe. Junge Forschende sind auf die Funktionsstruktur des akademischen Systems angewiesen. Sie sind finanziell und intellektuell von einer betreuenden Person abhängig, was zu Missständen führen kann. Klappt die Zusammenarbeit des Tandems nicht, ist es für Forschende schwierig, voranzukommen. Ziel ist es, diese Abhängigkeit zu verringern, indem beispielsweise Doktoratsschulen finanziert werden.

 

Was sind Ihre Leidenschaften?

Fussballspielen und Gärtnern. Ich liebe es, in meinem Garten in Zürich Tomaten anzubauen. Das ist wie Meditieren und das Ergebnis ist köstlich. Da färbt wohl der Beruf auf das Privatleben ab...

Biografie

 

1982: Geburt in Paris

2005: Diplôme d'Etudes Approfondies (DEA) in Makroökonomie an der Sorbonne in Paris

2005-2006: Investmentbanker bei der Bank CM-CIC in Paris

2005-2007: Research Fellow am Centre for European Policy Studies in Brüssel

2007-2012: Doktorarbeit über die Umverteilungseffekte der Geld- und Steuerpolitik am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz

2012-2014: Postdoc am Nuffield College der Universität Oxford 

2014-2015: Postdoc an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Cambridge

2015-2023: Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität St. Gallen (HSG) 

Seit 2024: Professor an der Aix-Marseille School of Economics der Universität Aix-Marseille