Wissenschaft vernetzen.

Die Junge Akademie Schweiz vernetzt Nachwuchsforschende aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen und bildet ein inspirierendes Umfeld für inter- und transdisziplinäre Begegnungen und innovative Ideen. Die Mitglieder sind Ansprechpartner:innen für die Schweizer Wissenschaft und gelten als die junge Stimme der Akademien der Wissenschaften Schweiz.

Den Fake News auf der Spur

Mit einem Doktorat in Plasmaphysik war seine berufliche Laufbahn eigentlich bereits vorgegeben. Doch er schlug einen anderen Weg ein, der ihn zur Netzwerkwissenschaft führte. Alexandre Bovet, Assistenzprofessor am Institut für Mathematik der Universität Zürich, ist Experte in der Erforschung dynamischer Gemeinschaften. Am liebsten beschäftigt er sich mit den sozialen Medien und ihrem Einfluss auf die Gesellschaft. Er ist 2020 zur Jungen Akademie Schweiz gestossen. Dort hat er sich einem Projekt angeschlossen, das sich mit den prekären Arbeitsbedingungen in der Schweizer Hochschullandschaft befasst, weil Fragen der Ungleichheit ihm besonders am Herzen liegen.

 

Porträt I Kalina Anguelova

Sind die Informationen, die wir konsumieren, wahr oder falsch? Führen sie zu einer verzerrten Sicht auf die Realität? Und vor allem: Wie zirkulieren Informationen? Diese Fragen faszinieren den 39-jährigen Alexandre Bovet, Assistenzprofessor am Institut für Mathematik der Universität Zürich. Er erforscht sie unter dem Gesichtspunkt der Netzwerkwissenschaft. Sein Werdegang, der ihn zu diesem Spezialgebiet geführt hat, ist aussergewöhnlich. Er hat zunächst Physik studiert und 2015 mit einem Doktorat über den Teilchentransport in turbulentem Plasma an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (ETHL) promoviert. Doch dann entschied er sich für ein Forschungsgebiet, das den menschlichen Mechanismen, denen sein grosses Interesse gilt, mehr Platz einräumte: „Durch das Doktorat habe ich meine Leidenschaft für die Forschung entdeckt, aber ich wollte meinen Horizont erweitern. Ich interessierte mich mehr für die Verbreitung von Informationen in unserer Gesellschaft als für die Verbreitung von Teilchen in Plasma.“

 

“Ich interessierte mich mehr für die Verbreitung von Informationen in unserer Gesellschaft als für die Verbreitung von Teilchen in Plasma.“

 

Verschiedene Menschen, denen er begegnete, wiesen ihm den Weg und gaben ihm das Gefühl, nicht in einer Einbahnstrasse zu stecken. Sie führten ihn zu Forschenden, die auf vielfältigeren Gebieten arbeiteten. Ihre Methode bestand darin, Verfahren aus der Physik und der Mathematik zu verwenden, um neue Daten aus dem Internet zu untersuchen. Die Idee dahinter ist, die Komponenten eines komplexen Systems und ihre Interaktionen durch die Knoten und Verbindungen eines Netzwerks zu modellieren. Die Untersuchung der Verbindungsmuster dieser Netzwerke trägt zu einem besseren Verständnis ihrer Funktionsweise bei. Dieser Ansatz ermöglicht es beispielsweise, soziale Medien wie X (vormals Twitter) zu analysieren und zu beleuchten, wie sich Informationen und Desinformationen verbreiten und welche Mechanismen der Meinungsbildung geschaffen werden.

 

Alexandre Bovet bemühte sich um ein Postdoc.Mobility-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, um sich in den USA im Bereich der Netzwerkwissenschaft zu spezialisieren. „Wegen meines Profils als Physiker wurde es mir nicht gewährt.“ Ein Richtungswechsel ist in der Welt der Wissenschaft nicht unbedingt selbstverständlich. „An den Universitäten gibt es ein Paradox: Sie mögen zwar interdisziplinäre Projekte, tun sich aber schwer damit, multidisziplinäre Profile zu rekrutieren. Ich arbeite heute am Institut für Mathematik der Universität Zürich, weil sie jemanden suchten, der auch bei der Digital Society Initiative mitwirken kann, was bei mir der Fall war.“

 

„Wenn wir die Dynamik der Informationsverbreitung in sozialen Netzwerken verstehen, können wir dadurch Fake News und die Personen, die dahinter stehen, besser erkennen.“

 

2015 war für den Wissenschaftler ein entscheidendes Jahr. Ein Praktikum diente ihm schliesslich als Sprungbrett: „Ich konnte an der ETHZ das soziale Netzwerk einer Population von Wildmäusen untersuchen. Dank der Kompetenzen, die ich mir in meinem neuen Gebiet aneignen konnte, klappte es schliesslich mit dem Stipendium. So kam ich ans Levich Institute des City College of New York, wo ich mich mit der Informationsverbreitung und der Dynamik von Meinungen in sozialen Netzwerken befasste.“ Seine Ankunft in den USA im Jahr 2016 fiel mitten in den Präsidentschaftswahlkampf. In den fünf Monaten vor der Wahl analysierte sein Team 171 Millionen Tweets über Donald Trump oder Hillary Clinton. Sie zeigten, dass die Verbreitung traditioneller Nachrichten auf eine kleine Usergruppe, die hauptsächlich aus Journalistinnen und Journalisten besteht, zurückzuführen ist und einer kaskadenartigen Ausbreitung folgt, während die Verbreitung von Fake News in stark vernetzten Gruppen stattfindet und das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen ist. „Wenn wir die Dynamik der Informationsverbreitung in sozialen Netzwerken verstehen, können wir dadurch Fake News und die Personen, die dahinter stehen, besser erkennen.“

 

Sein Aufenthalt in New York, den er als eine „extrem intensive Erfahrung“ beschreibt, endete nach anderthalb Jahren. „Ich wollte zurück nach Europa und einen etwas normaleren Rhythmus aufnehmen.“ Die Begegnung mit einem Professor brachte ihn dazu, Ende 2017 nach Brüssel zu gehen. Doch erst das zweite Mobilitätsstipendium des SNF ermöglichte es ihm, sein Verfahren zu konkretisieren. An der Université catholique de Louvain entwickelte er neue netzwerkwissenschaftliche Methoden, um vereinfachte Ansichten komplexer zeitlicher Systeme zu gewinnen. Bevor er in die Schweiz zurückkehrte, forschte er am Mathematischen Institut der Universität Oxford als Postdoc im Bereich Mathematik sozialer Systeme und Anwendungen in der öffentlichen Politik. Derzeit untersucht er an der Universität Zürich insbesondere das Potenzial und die Gefahren der Nutzung von künstlicher Intelligenz, um die Glaubwürdigkeit von Quellen zu überprüfen (Faktencheck) sowie die Mechanismen, die hinter der steigenden Polarisierung der sozialen Medien stecken. Ausserdem entwickelt er weiterhin neue mathematische Methoden zur Analyse von Netzwerken und ihrer Dynamik.

 

„Es war wahrscheinlich einfacher, Naturwissenschaften zu studieren und nebenbei weiter Musik zu machen als umgekehrt.“

 

Seinen weitreichenden Werdegang verdankt Alexandre Bovet wohl nicht zuletzt auch seinem familiären Umfeld. Die Liebe zu den Naturwissenschaften hat ihm sein Onkel, ein Spezialist in Plasmaphysik, vermittelt. „Es war jedoch die bedingungslose Unterstützung meiner Eltern, die mich ermutigte, mich an der ETHL für ein Physikstudium einzuschreiben.“ Und er gibt zu: „Physik hat mich zwar nicht am stärksten interessiert, aber es war das Fach, das mir am leichtesten fiel.“ Eine Zeit lang zögerte er zwischen einem Musikstudium –  Schlagzeug – und einem Physikstudium. „Es war wahrscheinlich einfacher, Naturwissenschaften zu studieren und nebenbei weiter Musik zu machen als umgekehrt.“

 

Was ihm heute bei der Jungen Akademie Schweiz gefällt? „Ich mag die Idee, an Projekten mitzuwirken, die auf die Wissenschaft ausgerichtet sind.“ Weil ihm Fragen der Ungleichheit besonders am Herzen liegen, hat er sich einem Projekt angeschlossen, das sich mit den prekären Arbeitsbedingungen in der Schweizer Hochschullandschaft befasst. Ziel dieses Projekts ist es, die Universitätskultur zu verbessern. „Bekannt sind vor allem Geschlechterungleichheiten. Es gibt jedoch andere Formen von Ungleichheit, von denen im akademischen Umfeld der Schweiz sehr wenig gesprochen wird, zum Beispiel verknüpft mit dem sozioökonomischen Hintergrund oder mit Rassismus.“ Im nächsten Jahr möchte der Forscher ein weiteres Projekt in Angriff nehmen: einen Podcast, der eine Verbindung zu einem jungen Publikum herstellen und es dazu anregen soll, über Themen im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen nachzudenken, wobei die Perspektiven der Wissenschaft und der Gesellschaft berücksichtigt werden sollen. „Wenn ich damals besser informiert gewesen wäre und besser verstanden hätte, was mich wirklich interessiert, hätte ich mich wahrscheinlich rascher für ein Doktorat in meinem derzeitigen Bereich entschieden. Das zeigt, wie wichtig es ist, klar über Wissenschaft zu kommunizieren.“

Biografie

 

(Seit 2022) Assistenzprofessor für Quantitative Network Science am Institut für Mathematik der Universität Zürich

(2022) Mitglied der Digital Society Initiative

(2021) Best Program Committee Member Award der International Conference on Web and Social Media (ICWSM)

(2020 - 2022) Postdoktorat an der Universität Oxford in Mathematik sozialer Systeme und Anwendungen in der öffentlichen Politik

(2017 - 2020) Postdoktorat an der Université catholique de Louvain und am Namur Center for Complex Systems/Mathematical Institute der Universität Oxford, Arbeit über zeitliche Systeme

(2016 - 2017) Postdoktorat am City College of New York, USA, Untersuchung über die Verbreitung von Informationen und die Dynamik der Meinungsbildung in sozialen Netzwerken

(2015 - 2016) Postdoktorat an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), Untersuchung der sozialen Organisation einer Population von Wildmäusen (einschliesslich der Verbreitung von Krankheiten)

(2015) Doktorat in Physik über den Teilchentransport in turbulentem Plasma an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (ETHL)

Share
Junge Akademie Schweiz

Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
Postfach
3001 Bern