Porträt | Astrid Tomzcak
Irgendwann im Gespräch fällt dieser Satz – und eigentlich hätte sie ihn gar nicht sagen müssen. Denn wer Aimée Zermatten zuhört, wird Zeugin einer Lebenserzählung, die klar macht: Diese Erzählerin sucht die Herausforderung, intellektuell, physisch, immer wieder neu. Der Satz lautet: «Ich brauche Abwechslung.»
Gut möglich, dass ihr dieser Drang nach Abwechslung und Stimulation in die Wiege gelegt wurde. Im Haus ihres Grossvaters – des Schriftstellers Maurice Zermatten – gingen Autoren ein und aus, grössere und kleinere Berühmtheiten. Mittendrin: Aimée, die gar nicht wusste, mit wem sie es da zu tun hatte und die unbefangen das Gespräch suchte. «Mir ist bewusst: Ich hatte keine gewöhnliche Kindheit», sagt die Walliserin. Was sie nicht sagt: dass damit wohl auch eine – bewusste oder unbewusste – Verpflichtung einhergeht. Die Verpflichtung, sich nicht mit dem Minimum zufrieden zu geben – und sich für die Gesellschaft einzusetzen. Auf ihrem Weg hatte sie stets ihre Eltern vor Augen: «Sie haben sich um Leute gekümmert, die an irgendeinem Punkt in ihrem Leben Schwierigkeiten hatten. Ich hingegen hatte sehr viel Glück im Leben.» Ihre Mutter arbeitete in einer Beratungs- und Begegnungsstelle, welche die Beziehung zwischen einem Kind und dem Elternteil, von dem es getrennt ist, unterstützt. Ihr Vater ist ein Experte für Kinderrechte, war Jugendrichter im Wallis und erster Schweizer im UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes, den er später auch präsidierte. Bei ihm machte Aimée Zermatten ein Praktikum. «Er hat mich sehr inspiriert», sagt sie.
«Mir ist bewusst: Ich hatte keine gewöhnliche Kindheit.»
Dieses Praktikum öffnete ihren Blick auf Menschenrechte, auf verletzliche Personen – und stellte wohl auch die Weichen fürs Jurastudium. Denn auch wenn es im Nachhinein vielleicht so aussieht: Vorgespurt war dieser Weg nicht. Aimée Zermatten ist vielseitig interessiert, hatte überlegt, französische Literatur, Religionswissenschaften oder Kunstgeschichte zu studieren, später vielleicht Lehrerin oder Journalistin zu werden. Sie arbeitete als Jugendliche mit grosser Begeisterung bei einem Walliser Radiosender, hat schon als 18-Jährige gemeinsam mit einer Freundin ein Theaterstück geschrieben, das sogar einen Preis gewann. «Ich schreibe gerne», sagt sie. «Aber ich habe mir überlegt: Schreiben kann ich jederzeit.» Rechtswissenschaft hingegen lässt sich kaum als Hobby betreiben. Also studierte sie Jura.
Die 36-Jährige beschreitet einen eher unüblichen Weg als Nachwuchsakademikerin. Sie arbeitet beim Bundesamt für Justiz und doktoriert an der Uni Fribourg. Ihre Dissertation schreibt sie über Sexualstraftäter. Ausgerechnet. Auch das wieder so eine Herausforderung, für die sie gelegentlich Kopfschütteln oder Verlegenheit erntet. Doch Aimée Zermatten lässt sich davon nicht aus dem Konzept bringen. «Die Fälle, die ich studiere, sind oft furchtbar», sagt sie. «Aber ich habe den Wunsch, etwas Relevantes zu tun. Mich beschäftigt die Frage, wie wir diese Leute in die Gesellschaft wiedereingliedern können.» Sie sagt es mit einer Dringlichkeit, die klar macht: Wenn Aimée Zermatten etwas anpackt, lässt sie nicht locker. Da ist er wieder: dieser Drang, an die Grenzen zu gehen, neue Wege zu beschreiten.
«Aber ich habe den Wunsch, etwas Relevantes zu tun.»
Bei der Jungen Akademie Schweiz ist sie damit und mit ihren interdisziplinären Interessen an der richtigen Adresse: «Hier habe ich wirklich Freundinnen und Freunde gefunden», sagt sie und gerät dabei fast ins Schwärmen. «Leute mit innovativen Ideen. Die Junge Akademie ist noch besser, als ich gedacht hätte. Es herrscht eine gute Stimmung, kein Wettbewerb.» Sie hat dort Ihresgleichen gefunden: Menschen, die getrieben sind von Wissbegierde, aber auch vom Drang, über sich hinauszuwachsen. Aimée Zermatten sucht diese Herausforderung etwa beim Trailrunning oder auf Skitouren in den Walliser Bergen. «Ich brauche das. Es beruhigt mich», sagt sie.
Menschen wie Zermatten, voller Tatendrang und Talente, werden oft als Überflieger bezeichnet. Dabei geht leicht vergessen, wie anstrengend ein solches Leben ist. «Ich wollte immer alles ausprobieren», sagt Aimée Zermatten. Heute betreibt sie Yoga und Meditation, um zur Ruhe zu kommen, sucht Ausgleich beim Kochen und Reisen, indem sie Zeit mit Freundinnen und Freunden verbringt. «Es hilft, Leute zu treffen, die ähnlich ticken wie ich», sagt sie. Wie bei der Jungen Akademie Schweiz, deren Arbeit ihr wirklich am Herzen liegt: «Für mich ist es wichtig, dass die Junge Akademie auch in Zukunft weiterhin besteht, dass sie neue Mitglieder aufnimmt, die unsere Ideen weiterverfolgen.» Ein besonderes Anliegen ist ihr die Situation des Mittelbaus: «Ich höre da viele schlimme und traurige Geschichten», sagt sie. «Als Junge Akademie können wir da innovativ denken und handeln.»
«Ich wollte immer alles ausprobieren.»
2021 war Aimée Zermatten Co-Sprecherin des Projekts «The Future of Human Rights», das darauf abzielte, auf originelle Weise den Zusammenhang von Menschenrechtsfragen und gegenwärtigen sowie möglichen zukünftigen Herausforderungen in den Bereichen Kunst, Gesundheit, Klimawandel und Digitalisierung zu analysieren und aufzuzeigen. «Das habe ich sehr genossen», sagt die Juristin. Letztes Jahr hat sie im Rahmen des Projekts «Fostering Transdisciplinary Collaborations for Change» eine Retraite mitorganisiert, um Ideen für zukünftige interdisziplinäre Projekte zu diskutieren. «Wir haben uns besser kennengelernt und viel gelacht.» Zurzeit denkt sie mit anderen Mitgliedern darüber nach, einen Podcast zu lancieren – um junge Menschen auf diesem Kanal zu inspirieren, die Wissenschaft als Mittel zu entdecken, um einen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft zu leisten.
Und wo sieht sie ihre Zukunft? «Ich mache keine Pläne. Ich hatte auch nicht geplant, im Justizvollzug zu landen.» Dann schiebt sie nach: «Ich möchte irgendwo sein, wo ich persönlich und beruflich glücklich und intellektuell herausgefordert bin.» Für den Moment fühlt sie sich wohl in der Schweiz. «Ich mag die Mehrsprachigkeit unseres Landes, das ist ein Reichtum.» Klar ist für sie: «Ich brauche viel Freiheit.» Ob sie diese in einer akademischen Karriere, in der Verwaltung oder im Betreiben einer Weinbar findet – wer weiss. «Wahrscheinlich brauche ich mehrere Tätigkeiten gleichzeitig.» Wieder so ein Satz, den sie eigentlich nicht hätte sagen müssen. Denn wer Aimée Zermatten bis hierhin zugehört hat, weiss: Diese Frau hat viele Talente. Das Talent zur Eintönigkeit gehört definitiv nicht dazu.
Von Sion nach Bundesbern
Aimée Zermatten (Jg. 1986) ist in Sion geboren und aufgewachsen. Sie hat an den Universitäten Fribourg und Wien Rechtswissenschaften studiert. Von 2008 bis 2016 war sie in Fribourg in der Justizvollzugspraxis tätig. Seit 2016 arbeitet sie als Juristin beim Bundesamt für Justiz. Nebenbei forscht sie im Strafrecht und hat gerade ihre Dissertation über die strafrechtliche Behandlung von Sexualstraftätern eingereicht. Aimée Zermatten ist Mitglied der Jungen Akademie Schweiz und in verschiedenen Verbänden aktiv.
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